Ein Tag im Maerz
Sänger auf die Bühne treten und zusammenhängend mit einer Zuschauermenge plaudern konnten, die mehr als fünfzehn Köpfe zählte.
»Ganz gut«, grunzte ein Mann.
»Toll, hey, gut zu hören, dass es euch gut geht!«, rief Bryony und zeigte ihm den erhobenen Daumen in dem verzweifelten Versuch, ihr Publikum mitzureißen. Die Leute blieben jedoch so kühl wie das Ding, an dem die Titanic gescheitert war. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Adam in stillem Gelächter fast dahinschmolz, die Hände über dem Mund. Er wiegte sich vor und zurück und zitterte.
Noch mehr Schweigen trat ein, als Bryony innerlich zusammenschrumpelte, geblendet von Licht, das ihr grell ins Gesichtschien. Sie kam überhaupt nicht mit diesem Augenblick des »Ruhmes« klar, und sie spürte, wie ihre Kniekehlen schwitzten. Wenn die Kniekehlen schwitzen, das ist immer schlecht, dachte sie.
»Machst du jetzt mal bitte voran!«, rief der Vampirtyp. Er hatte es offenbar eilig, auf die Bühne zu kommen und seinen Auftritt zu beginnen.
»Klar, also, hier ist Wicked Game «, sagte Bryony, räusperte sich und holte tief Luft. Sie schloss die Augen und ergriff das Mikro mit beiden Händen. Sie stellte sich vor, sie wäre in einem von Kerzenschein erhellten Zimmer, und Max säße auf einem Stuhl vor ihr. Sie stellte sich sein schönes Gesicht vor und sein Lächeln. Sie stellte sich vor, sie singe für ihn.
»The world was on fire and no one could save me but you …«
Die erste Zeile kam ganz gut heraus, ein bisschen wacklig vielleicht, aber Bryonys Stimme hatte ein liebliches Timbre. Sie holte tief Luft, ehe sie die nächste Zeile sang; die Augen hatte sie noch immer geschlossen. Sie verspürte Schmerz, als sie sich Max vorstellte, wie er lächelte und den Kopf auf eine Seite legte, versunken in seiner Liebe und der Bewunderung, die sie mit sich brachte.
»It’s strange what desire will make foolish people do …«
Ihre Stimme erwärmte sich immer mehr für das Lied. Die Töne lagen perfekt. Die Leute reckten die Hälse, um Bryony besser sehen zu können, und legten die Handys weg.
»I never dreamed that I’d meet somebody like you …«
Der Max in ihrer Fantasie grinste, hob die Hand ans Gesicht und rieb sich leicht über die Bartstoppeln.
»It’s strange what desire will make foolish people do …«
Ihre Stimme klang kehlig und sexy, doch zugleich war sie lieblich und unschuldig. Adam fand die Situation nicht mehrkomisch; vielmehr richteten sich die Härchen an seinen Armen auf.
»I never dreamed that I’d love somebody like you … And I never dreamed that I’d lose somebody like you …«
Bilder von Max’ Beerdigung traten Bryony plötzlich vor Augen, und ihr stieg ein Kloß in die Kehle.
Die schwarzen Autos, die Blumen, der verzweifelte Schmerz.
Adam spürte etwas durch die Art, wie sie sang. An der Art, wie sie Gefühle ausdrückte, war etwas so Wissendes, besonders für eine so junge Frau, dass er den Eindruck gewann, sie sei an einem ganz besonderen Ort gewesen oder hätte etwas wahrhaft Bemerkenswertes erlebt. Ob etwas Gutes oder Schlechtes, das konnte er nicht sagen.
Bryonys Gedanken kehrten zu dem kerzengefüllten Raum zurück. Sie hatte die Augen noch immer geschlossen. Max kam langsam auf sie zu, während sie sang, beide Hände in den Taschen.
»No, I don’t want to fall in love …«
Ihre Stimme ging sanft in die hohen Noten, mit einem herrlichen jazzigen Schwanken.
Mühelos brachte sie den Song hinter sich, sang, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Als sie fertig war, schlug sie die Augen auf. Darin waren Tränen aufgestiegen, gerade noch nicht groß genug, um ihr die Wangen hinunterzulaufen.
Sie schluckte mühsam, und Max war fort.
Die Leute begannen zu jubeln und zu applaudieren. Als sie zu Adam blickte, sah sie noch, wie er sich mit dem Handrücken die Tränen abwischte.
25
Spliss.
Freitag, 5. Juni 2009
Hackney, Nordost-London
19.30 Uhr
»Wer bist denn du?«
Eine Frau mittleren Alters war an die Tür gekommen. Als sie öffnete, schlug Rachel ein Gestank nach altem Zigarettenqualm entgegen, der ihr das Wasser in die Augen trieb und in der Nase kitzelte.
Fast riss sie den Mund auf vor Entsetzen über den Anblick, der sich ihr bot.
Lisa sah in keinster Weise wie die Frau aus, die Rachel sich vorgestellt hatte – eine schlanke Erscheinung in einem Kostüm aus den Achtzigern mit gigantischen Schulterpolstern und einem perfekt geschnittenen Bubikopf. Stattdessen war die
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