Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
heute habe, verdanke ich dem, was ich durchgemacht habe. An meiner Stelle könnte ein anderer Mensch sein, und du würdest heute nicht mit mir, sondern mit jemand anderem sprechen. Es hat einfach so sein sollen, dass ich dort war.»
Hier verdreht Lecha die Tatsachen dann doch ein bisschen. Das Schicksal hat ihn schließlich gerade deshalb ausgewählt, weil er so ist, wie er ist. Eine Seele von Mensch. Fremde gibt es für ihn nicht. Er ist bereit, jedem die Hand zu reichen.
«Mit mir lag ein Junge auf dem Zimmer, dem hatte eine Sprengfalle ein Bein abgerissen. ‹Oi, alles Mist, wer braucht mich noch›, und all das. ‹Hör bloß auf›, sage ich. ‹Beine, Arme, denk doch nach, das Wichtigste ist, dass du Kinder zeugen kannst.› Einmal gingen wir schlafen, und er schiebt was unter sein Kissen … ‹Nacht, Jungs, schlaft gut.› Mir kam das irgendwie zu inbrünstig vor, wie er sich da von allen verabschiedete. Ich humpele auf meinen Krücken zu ihm, hebe das Kissen an, da liegt eine Messerklinge. Da hab ich erst mal ein prophylaktisches Gespräch mit ihm geführt … hab ihm einen Vogel gezeigt, mit anderen Worten (
lacht
). Dann wurden wir entlassen. Nach einer Weile hab ich ihn besucht. Zwei Mädchen, zwei Autos, ein lebensfreudiger Bursche. ‹Hör mal, was sind das für Mädel?›, sage ich zu ihm. ‹Meine Freundinnen›, sagt er. ‹Siehst du, wozu du gut bist, du beinloser Krüppel?›, sage ich zu ihm. ‹Ach, geh doch!› (
lacht
) Im Krankenhaus suchten Psychologen jeden ‹Tschetschenen› auf – Nimm’s nicht tragisch, das Leben geht weiter, nicht verzagen, Kinder zeugen. Sie kommen zu mir, und ich: Ja, ja, stimmt alles. Und serviere ihnen meine Lebensanschauung. ‹Du bist ja selbst wie ein Psychologe›, sagen sie, ‹bei dir ist das überflüssig, du wickelst jeden ein.› Tatsächlich bin ich Optimist – ich will einfach leben. Man muss leben, schon wegen der Jungs, die gefallen sind, um ihr Andenken im Herzen zu tragen. Wenn wir alle heute verschwinden, dann wird niemand mehr da sein, um sich an sie zu erinnern. Und Gedanken habe ich viele. Aber sie in Worte zu fassen … (
lacht
) Komm, schenk ein.»
Heimatland, verrat mich nicht
Alexander Tschikunow traf ich an einem Sonntagabend in einer stillen Seitengasse der Moskauer Iljinka. Vogelzwitschern, Sonne, Schläfrigkeit. Niemand da außer uns. Die träge Ruhe eines Krankenhaushofes. Vielleicht fing er deshalb von seiner Verwundung an.
«Das erste Mal im Krieg war ich in Sumgait. Als sie uns dort hinbrachten, fing alles gerade erst an. An der Kreuzung der Freundschafts- und Friedensstraße hatte sich eine riesige Menschenmenge versammelt – fünfzehntausend Mann. Zwischen ihnen Schützenpanzer irgendeiner Infanterieschule. Ich weiß nicht, wer in diesen Panzern saß – Armenier oder Aserbaidschaner. Ihr Anführer war Hauptmann. Und dieser Hauptmann riss plötzlich die Maschinenpistole hoch und begann in die Menge zu schießen. Dreißig Gefechtspatronen in die dichtgedrängte Masse. Die Menge weicht zurück. Verwundete, Tote, Schreie … Und dieser Hauptmann zieht einen der Panzerfahrer aus der Luke, setzt sich an seinen Platz und fährt mit voller Geschwindigkeit in die Menge. Beginnt, einzelne Menschen zu zerdrücken, mal mit der einen Raupe, dann mit der anderen. Kannst du dir vorstellen, was da los war? Was wir da für Leichen gesehen haben! Der Schützenpanzer war vollgespritzt mit Blut. Diese Kreuzung war der Anfang aller Kriege. Danach habe ich angefangen zu schreiben.»
Tschikunow greift nach einer Zigarette. Wir rauchen. Er fährt fort.
«Ich habe zweiunddreißig Jahre in der Armee gedient, und die Armee hat nicht das Gefühl von Kameradschaft in mir hinterlassen, sondern das von Verrat. Von einem furchtbaren Verrat. Wie sie verheizt wurden, unsere Jungs. Mit der Artillerie, mit Grad-Raketen. In Grozny saßen wir einmal in einer Konservenfabrik fest, wie die Sardinen in der Büchse. Ringsum ‹Tschechen›. Zwischen denen und uns vielleicht hundert Meter, nicht mehr. Und der Kommandeur gibt plötzlich Befehl zur Artillerieunterstützung. Zwölf Kilometer hinter Tolstoi-Jurt setzt die schwere Artillerie ein. Auf diese Entfernung ist eine Abweichung von hundert Metern ganz normal. Zwei Stunden lang plätteten sie uns mit den Selbstfahrlafetten. Berge von Leichen gab das, Berge … Ich ging zum Kommandeur und bat, das Feuer einzustellen. Man bezeichnete mich als Panikmacher – hast Angst, ein oder zwei Dutzend Soldaten zu
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