Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Bein …»
Lecha lebte in diesem Krankenhaus in einem Eckchen wie eine Katze. Und man behandelte ihn auch so – einmal am Tag füttern, man legt ihm ein Stück Brot und stellt einen Becher Wasser hin und vergisst ihn wieder. Man brachte ihn nicht um, aber besonders froh war man über seine Anwesenheit auch nicht – immerhin war er ein Feind.
Aber man behandelte ihn. Dreimal am Tag kam die Krankenschwester, gab ihm Spritzen, wechselte den Verband.
Einmal, als sie ihm wieder gleichgültig routiniert die Spritze in den Hintern jagte, sagte sie wie nebenbei, das sei die letzte Injektion. Lecha freute sich sogar: Wer hat schon Spaß daran, sich den Hintern löchern zu lassen? Die Krankenschwester sah ihn seltsam an, sagte, sie hätten so viel gespritzt, wie bezahlt worden sei, und ging. Von ihrem Blick wurde Lecha ganz schlecht – er glaubte verstanden zu haben, was sie sagen wollte: Hier sterben Leute an Tetanus und Gangrän, und wir geben dir Medikamente.
Vielleicht hat sie auch gar nichts dergleichen gedacht, vielleicht hat er sich das nur gedacht, und ihr war es völlig egal, wen sie behandelt – ihre eigenen Leute, Fremde, Schwarzhaarige oder Rothaarige … Der Arzt hatte doch gesagt, es gebe bei ihnen für ganz Tschetschenien nur drei Iljazarow-Apparate, und einen davon hatten sie Lecha gegeben. Und diese Krankenschwester half ihm, seine Ikone vor den Kämpfern zu verstecken. Jedenfalls verriet sie ihn nicht.
Nach dem Gespräch fühlte sich Lecha schon ein bisschen anders im Krankenhaus – nicht verschreckter, wie es vielleicht richtig gewesen wäre, sondern im Gegenteil verantwortungsvoller. Er begann wohl irgendetwas zu verstehen. Schließlich hatte nicht er diesen Krieg angefangen. Und sie auch nicht.
«Nach meinen Berechnungen habe ich in dieser Schlacht etwa zehn Menschen getötet. Mit der Flak haben wir ein paar Häuser zertrümmert. Ein Haus habe ich selbst zerschossen, da liefen zehn Mann drin herum. Das flog nur so in Fetzen – kein Wunder, wenn hundert Geschosse in vier Sekunden einschlagen, Kaliber dreiundzwanzig Millimeter. Danach lief keiner mehr herum. Alle zehn nehme ich nicht auf meine Kappe, aber fünf bestimmt. Dann noch vier mit der Maschinenpistole. Und die wussten, dass das mein Werk war. ‹Mensch, du hast unsere Brüder umgebracht.› – ‹Und du meine›, sage ich. ‹Das ist Krieg.› – ‹Du bist soundso einer.› – ‹Na, ihr doch auch›, sage ich. ‹Wodurch unterscheiden wir uns – du bist Soldat und ich genauso, wir bekommen einen Befehl und ziehen los …› Bei denen gibt es verschiedene Gruppen. Die ‹Indianer› zum Beispiel. Stell dir mal vor, du gehst in den Garten und in dem Moment fällt eine Bombe auf dein Haus. Du stehst da in der Unterhose und mit dem Spaten in der Hand und siehst mit an, wie das verbrennt, was vor einer Sekunde noch deine Familie war. Diese Leute haben nichts zu verlieren, sie machen auch keine Gefangenen. Mir haben die ‹Tschechen› selbst gesagt – hast Glück gehabt, dass du zu uns gekommen bist, also zu Bassajew, zu einer normalen Bande. Die ‹Indianer› hätten dich an Ort und Stelle umgebracht, erst noch ein bisschen Folter – die Ohren, das Glied – und dann die Gurgel. So wie sie davon erzählten, haben sie sicher selbst manchmal Angst vor diesen Leuten. Vielleicht würde ich heute auch alle durch die Bank hassen, würde durch die Stadt laufen und, wie’s gerade kommt, jemandem die Kehle durchschneiden. Aber sie haben sich mir gegenüber so verhalten, dass ich sie nicht hassen konnte. Banditen sind das, Schlangengezücht … Aber sie haben Mitgefühl gezeigt. Haben mich damit angesteckt. Wozu euch umbringen, sagen sie – ihr seid doch eine Herde Hammel, folgt wie blöd dem Befehl. Wir bringen euch jetzt nicht um. Wir schießen in die Hände, in die Beine, damit man euch zu Hause sieht und sich Gedanken macht. Vielleicht ziehen dann weniger Soldaten in den Krieg. Besser, du wärst überhaupt nicht zur Armee gegangen. ‹Dafür sperrt man uns ein›, sage ich. ‹Na und? Sitz deine Strafe ab! Wozu bist du hierhergekommen! Wir schneiden dir gleich die Gurgel durch, dort hättest du deine Zeit abgesessen und wärst lebend rausgekommen.› Da hatte ich keine Antwort mehr, es stimmt ja auch.»
Am nächsten Tag kam Bassajew wieder ins Krankenhaus. Er schaute nach seinen Leuten und kam auch zu ihm. Diesmal hatte er Ibn al-Chattab dabei – den kannte Lecha schon vom Sehen, nämlich aus dem Fernsehen. Sie
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