Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
fremd, als gehörten die Beine nicht ihm?
«Im ersten halben Jahr spürte ich meine Beine überhaupt nicht. Die Ärzte sagten mir nicht, dass mein Rückgrat gebrochen war. Sie sagten, es sei eine Kontusion, und mir wollte das nicht einleuchten, eine Prellung, gut und schön, aber warum spüre ich meine Beine nicht? Dann sagten sie mir, warum … Es war ein Schlag. Ich wollte nicht mehr leben. Jagte meine Frau weg – leb allein, ich habe jetzt kein Leben mehr, nur noch Kampf. Aber ich hatte kleine Kinder, sie hielten mich. Wie jeder anständige Kerl war ich verpflichtet, sie auf die eigenen Beine zu stellen. Nur deshalb wollte ich wieder leben, wollte kämpfen. Alles musste ich neu lernen …»
Für den Anfang musste er erst einmal sitzen lernen. Ein Jahr lang hatte er bewegungslos gelegen, und der Körper war die aufrechte Haltung einfach nicht mehr gewohnt. Sobald die Krankenschwestern ihn nur ein bisschen vom Kissen anhoben, verlor er das Bewusstsein. Doch er trainierte hartnäckig. Bald konnte er schon eine Minute sitzen, bevor er ohnmächtig wurde. Dann zwei. Dann fünf, zehn, fünfzehn. Der Rekord war drei Stunden.
Sobald er sitzen konnte, fing er mit den Übungen für die Beine an. Zwei-, dreimal am Tag zog er die Zehen an und ließ wieder locker, zog sie an, ließ locker. Das heißt, er versuchte es, denn die Beine blieben gefühllos. Aber er kämpfte. Und als sich nach einem halben Jahr am rechten Fuß ein Zeh rührte, lief vor Aufregung das ganze Spital zusammen.
«Das war wie ein Wunder. Damals glaubte ich, ich würde wieder gehen können. Der Rollstuhl würde mir erspart bleiben. Ich fing an, das Stehen zu üben. Auch für je eine Minute. Helfer stellten mich an die Wand – und ich blieb stehen.»
Um aus diesem Abgrund bei Gardez herauszukommen, in den er im Dezember 1986 mit seinem Hubschrauber gestürzt war, benötigte Alexander Dunditsch viele Jahre. Jeder Tag war eine Schlacht für ihn, jeder Tag brachte einen neuen Rekord – erst in Minuten, dann in Schritten, dann in Metern. Anfangs auf Krücken, dann mit zwei Spazierstöcken, dann mit einem. Der nächste Rekord – hundert Schritte ohne fremde Hilfe – bedeutete für ihn, dass eine weitere Stufe auf der Rückkehr zu einem normalen Leben genommen war. Er trainierte jeden Tag, Schritt für Schritt, Stunde für Stunde.
Nur einmal gab es eine Unterbrechung – als er gestürzt war. Die Putzfrau wischte den Boden, Dunditsch wollte an ihr vorbeigehen, rutschte aber auf dem nassen Linoleum aus und drohte mit dem Rücken genau auf den Eimer zu fallen. Wie durch ein Wunder konnte er sich noch umdrehen und fiel auf den Bauch. Danach stand er eine Woche nicht auf – er konnte seine Angst nicht bezwingen. Und verzichtete von nun an nicht mehr auf seinen Stock.
Als die Scharniere – zwei miteinander verschraubte Metallplatten – von der Wirbelsäule abgenommen wurden, begann er, in der Sporthalle zu trainieren. Er bat das Armeekommando, ihn zu dem Spezialisten Valentin Dikulj zu fahren, und der war bereit, ihn aufzunehmen. Das Krankenhaus stellte ein Fahrzeug, und Dunditsch wurde jeden Tag zum Üben dorthin gefahren.
«Er nahm mir die Stöcke ab und brachte mir bei, an der Wand entlangzugehen. Einmal führte er mich in einen schmalen Korridor – so schmal, dass ich mit ausgestreckten Armen beide Wände berühren konnte –, aber das nur zur Sicherheit, er erlaubte mir nicht, die Wände anzufassen. Er stellte mich in den Flur und sagte: ‹Jetzt geh.› Und ich machte zwei Schritte. Das war ein Triumph. Große Freude. Ich konnte wieder gehen.»
Dann verschlechterte sich wieder alles. Der Schmerz kam und ließ keine Sekunde nach. Am Rücken öffnete sich die Wunde, Fisteln bildeten sich. Das zertrümmerte Bein wollte nicht verheilen, durch die Belastung hatten sich die Knochensplitter verschoben und drangen nach außen. Der Knochen fing an zu faulen, es kam zu einer Osteomyelitis, einer Entzündung des Knochenmarks. Die Fisteln heilten ein Jahr lang nicht ab, und wieder wurde eine Amputation erwogen.
Im Jahr 1993 hatten die Jungs aus dem Gebietsverband der Afghanistankrieger es geschafft, Dunditsch eine kostenlose Behandlung in Deutschland zu ermöglichen. Die Hinreise erfolgte mit einem Transportflugzeug – es war das letzte Jahr, dass unsere Truppen in Deutschland stationiert waren.
«In Russland hatte ich sieben Jahre vor mich hin gefault. Sieben Jahre lang hatte ich ein Loch im Rücken, das nicht zuheilen wollte. Die
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