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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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verlieren. Als mich der Querschläger eines Geschosses an der Kugelweste traf, trug ich den riesigen Splitter zum Kommandeur und schleuderte ihm das Teil auf den Tisch …
    Einige Tage später verlegte man uns in die Stadtmitte. Ich war mit Soldaten der Schnellen Eingreiftruppe SOBR unterwegs. Wir sitzen auf dem Panzer, da wird plötzlich eine Meute in Uniform herangetrieben – als Abteilung konnte man sie schwer bezeichnen. Ich frage: ‹Was sind das für welche?› Reserve des Verteidigungsministeriums. ‹Sie sind vereidigt?› Nein. ‹Haben sie auch nur einmal mit einer Maschinenpistole geschossen?› Nein. Völlig grüne Jungs, nicht mal ihre Uniform war zerknittert. Ein Granatwerferbeschuss setzte ein. Die Soldaten blieben stehen – alle auf einem Haufen. Nicht einmal hinwerfen konnten sie sich ohne Befehl. Kannst du dir vorstellen, was das ist, ein Granatwerferbeschuss, wenn der ganze Hof voller Leute ist? Eine Granate schlägt ein – vier, fünf, sechs Tote … In der Menge bildet sich ein Loch, dieses Loch füllt sich sofort mit anderen. Sie drängeln sich aneinander wie die Pinguine. Sie haben Angst, suchen die Nähe der anderen, da kommt schon die nächste Granate. Wieder ein Loch, wieder füllen die anderen es mit ihren Körpern. Ein Offizier der SOBR und ich fingen also an, sie auseinanderzutreiben, packten sie am Rock und schubsten sie in die Spurrillen der Panzer. Ich hatte gerade den Nächsten am Wickel, da detoniert was hinter uns. Wir wurden in eine Grube geschleudert, er als Erster, dann ich, und auf uns fiel noch ein Dritter. Ich kletterte unter ihm heraus, drehte ihn um, die Jacke war aufgerissen, in der Brust ein riesiges Loch, noch rauchend. Er war bei Bewusstsein. Sah mich an: ‹Sagt nur meiner Mama nichts …› – und starb.»
    Er macht eine Pause.
    «Die Armee war so demoralisiert, so am Boden», fährt Tschikunow fort. «Die Soldaten saßen einfach da und warteten, bis sie getötet wurden. Sie konnten überhaupt nicht kämpfen. In so einem Zustand waren sie. Ich habe später Psychologen gefragt, woher dieser Stupor, also diese Gefühlsstarre, kommt – da läuft einer rum wie ein Zombie, lässt die Maschinenpistole über den Boden schleifen, tritt auf Leichen, auf Eingeweide, sieht nichts, und seine Augen sind weiß, ganz einfach nur weiß, scheinbar ohne Pupillen. Sie antworteten: Das ist ein völliger Aussetzer.
    Verrat. Der totale Verrat. Weißt du, dass vierundzwanzig Stunden vor dem vernichtenden Beschuss einer Kolonne des 245 . Regiments bei Jarysch-Mardy drei Sammelbataillone von den umliegenden Höhen abgezogen worden sind? Sie zogen ab, und am nächsten Morgen war Chattab an ihrer Stelle und beschoss die Kolonne den ganzen Tag lang aus unseren Gräben.»

Ein Leben auf der Waagschale
    Im Dezember 1986 versuchte Alexander Dunditsch in Afghanistan bis zur letzten Minute, die Steuerung seines angeschossenen Helikopters zu halten. Ihm ist es zu verdanken, dass zwölf Mann gerettet wurden. Seither verbringt Alexander buchstäblich die meiste Zeit in Krankenhäusern. Von den zwanzig Nachkriegsjahren seit Ende des sowjetisch-afghanischen Krieges lag er zehn in einem Krankenbett. In dieser Zeit ist er siebenundvierzigmal operiert worden. Es half alles nichts. Er hat ein gebrochenes Rückgrat, seine Nieren haben versagt, Alexander wird sterben. In den letzten anderthalb Jahren befand er sich ununterbrochen im Wischnewskij-Krankenhaus in Krasnogorsk.
    «Es passt gerade nicht», sagt die diensthabende Schwester, als ich Alexander Dunditschs Namen nenne. «Er ist noch nicht richtig aus der Narkose erwacht, er schläft. Er wurde gerade zum achtundvierzigsten Mal operiert. Die Fistel will sich einfach nicht schließen. Schon seit zehn Jahren …»
    Sie führt mich ins Krankenzimmer. Auf dem Flur stehen zwei junge Soldaten und rauchen. Der Schädel des einen ist fast vollständig verbrannt, Haare hat er nur noch an der linken Schläfe, der Rest besteht aus huckligen, roten Geschwüren. Aber das Gesicht ist unversehrt. Die Augen sind in Ordnung. Glück gehabt.
    Alexander Dunditsch liegt da, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Die Narkose wirkt noch nach, er spricht langsam.
    «Setz dich. Da ist ein Stuhl. Ich bleibe liegen, wenn du erlaubst.»
    «Soll ich vielleicht später noch mal wiederkommen?» Ich habe das Gefühl, ich störe.
    «Schon gut, setz dich. Reden können wir. Wann das alles passiert ist, ja? 86 . Beim Anflug auf Gardez. Wir waren schon im Landeanflug, die Landebahn

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