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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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brachten Brötchen und Saft. «Na, tut’s weh?» – «Ja.» – «Tritt zum Islam über, dann werden wir dich heilen. Bei uns ist ein Fallschirmjäger, der fährt Mercedes, wir bezahlen ihn in Devisen. Dich werden wir auch bezahlen.» Lecha war völlig verblüfft – diese plötzliche Wende hatte er nicht erwartet. «Und was soll man da antworten, sie verstehen ja das Wort ‹Njet› nicht. Ich spielte also wieder den Dummen. So und so, sage ich, erst mal auf die Beine kommen, dann kann ich was dazu sagen. Und überhaupt – was ist denn eigentlich dieser Islam, womit wird das gegessen? Muss ich erst wissen. Erzählt mal.
    Sie erzählen – eine Stunde, zwei. Man dürfe nicht trinken, nicht rauchen. Nicht trinken, aber spritzen tun sich alle was. Und während sie erzählen, vergessen sie selbst, dass sie mich anwerben wollten. Na, verstanden? Jawoll. Dann denk drüber nach. Und weg sind sie. Schirwani wollten sie mich nennen, so hieß mein Arzt.»
    Ins Krankenhaus kam auch öfter ein Russe von fünfundvierzig Jahren. Er erzählte, dass er vor längerer Zeit eine Tschetschenin geheiratet habe. Als der Krieg losging, stand er vor der Wahl – für ein Land zu kämpfen, in dem er kein einziges Mal gewesen war, oder für seine Familie. Er sagte, auch andere Soldaten seien versklavt. Sie leisten Zwangsarbeit und werden dafür ernährt. Wo und wie viele, sagte er nicht, aber nach Lechas Gefühl befanden sich damals fünfhundert Mann in Gefangenschaft. Vielleicht auch mehr. Man hielt sie in Grüppchen von zwei bis drei Mann und verkaufte sie sich gegenseitig weiter. Auch vom Ersten Tschetschenienkrieg waren noch welche geblieben, dazu kamen die, die zwischen den Kriegen entführt worden waren, und die aus dem Zweiten Tschetschenienkrieg. Was mit ihnen passiert ist, als die Kämpfer in die Berge vertrieben wurden, hat Lecha nicht mehr erfahren.
    Nachdem Bassajew abgefahren war, erhielt Lecha wieder Injektionen. Und sein Bein wurde noch dreimal operiert.
    In dem Krankenhaus lag er die letzten anderthalb Monate seiner Gefangenschaft. Und dann tauchte noch ein Tschetschene in seinem Leben auf. Er fiel Lecha sofort auf – zivil gekleidet, keine Ähnlichkeit mit den Kämpfern, auch benahm er sich anders. Dieser Tschetschene kam von selbst zu ihm und stellte sich vor: Wacha Mutuzov aus Moskau. Wie sich herausstellte, saß ein Bruder von ihm im Gefängnis, und Wacha wollte ihn freikaufen, indem er ihn gegen einen russischen Kriegsgefangenen austauschte.
    «Er kam zu Bassajew – hör zu, ich will einen Gefangenen bei dir kaufen, am besten einen Verwundeten, noch besser im Kampf gefangen. Der sagt: Nimm diesen hier, Lecha. Sergeant. Bein zerfetzt, Arm zerfetzt, seine Leute haben ihn im Stich gelassen, wir haben ihn aufgelesen – mit einem Wort ein gutes Exemplar. Und Wacha schlug zu. Er hätte einen anderen kaufen können, aber er kaufte mich …»
    Sie fuhren Lecha im Auto weg. An der Grenze zu Inguschetien war Stau, Massen von Flüchtlingen standen auf der Straße. Die Kämpfer schlichen sich zum Kontrollpunkt, kasperten irgendwas ab, und man schleuste sie mit Lecha an der Kasse vorbei. So erreichten sie unter Umgehung aller Posten und unter bewaffnetem Geleitschutz der Bärtigen Nazran.
    «Unsere Leute sollten uns an der Grenze in Empfang nehmen – Wacha hatte sich an die Regierung gewandt, soll heißen, ich will einen Gefangenen kostenlos übergeben, und man erwartet mich dort – Geheimdienste, Korrespondenten, Erste Hilfe. Dabei war ich schon in Nazran. Dort kommt ein FSB -Mann zu mir: Wie bist du denn hergekommen? Wenn ich das wüsste, antworte ich. Da gaben sie per Funk durch, kommt her, der Mann ist längst hier …»
    Die nächsten zwanzig Monate lag Lecha im Krankenhaus von Reutow herum. In dem zertrümmerten Oberschenkel hatte sich eine Gangrän gebildet, Osteomyelitis lautete die Diagnose, eine Entzündung des Knochenmarks, und die Ärzte schnitten ihm neun Zentimeter Knochen heraus. Unterhalb des Knies sägten sie ihm das Bein erneut auseinander und legten den Iljazarow-Apparat an.
    Jeden Tag in diesen Monaten streckte Lecha sein Bein. An den Schrauben drehte er selbst. Er beschaffte sich ein Lineal, einen Notizblock und strich die Millimeter aus. So eine Art Entlassungskalender – nur zählte er nicht die Tage, sondern die Millimeter. Und das Bein wuchs vom Knie ausgehend, Adern, Venen, Muskel dehnten sich. Und es tat weh. Aber um sechseinhalb Zentimeter konnte Lecha sein Bein

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