Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Wirbelsäule schien schon durch. In Deutschland heilte man mich innerhalb von vier Tagen. Man stopfte es einfach zu, und am nächsten Tag hieß es: ‹Alexander, aufstehen.› Und ich stand auf. Ich will nicht sagen, dass sie dort bessere Ärzte haben – unsere sind genauso gut, ich kann bis heute nicht fassen, dass sie mein Bein gerettet haben. Aber eben die Medikamente …»
Die Medikamente erwiesen sich als großes Problem. Als Alexander aus Deutschland zurückkehrte, war in Russland alles eine Frage des Geldes geworden. Trainieren bei Dikulj konnte er nicht mehr – der musste jetzt Miete zahlen, und die Klinik war ebenfalls kostenpflichtig geworden. Auch die Medikamente kosteten Geld. Die Wunden eiterten wieder, und das ließ sich nicht mehr stoppen. Er lebte in Krankenhäusern und kam nach Hause, als wäre er zu Besuch. In dieser Zeit schnitten, säuberten und nähten sie ihn siebenundvierzigmal. All das führte dazu, dass Alexanders Nieren allmählich versagten.
«Zwanzig Jahre lang hatten sie mir Tag für Tag Antibiotika gespritzt. Ich wusste damals nicht, wie schädlich das ist. Und natürlich hielten die Nieren das nicht aus. Seit anderthalb Jahren muss ich jetzt zur Dialyse – alle drei Tage. Sonst sterbe ich. Jetzt brauche ich eine Nierentransplantation. Das ist meine einzige Hoffnung. Die Hoffnung, noch ein Weilchen zu leben …»
Die Hoffnung ist sehr gering. Transplantationen erfolgen in Russland praktisch in einem rechtsfreien Raum. Die Ärzte scheuen davor zurück, weil sie Angst vor Strafverfolgung haben. Man würde Alexander wieder in Deutschland aufnehmen, aber diesmal kostet die Operation etwas. Er braucht Geld. Sehr viel Geld – einige zigtausend Euro. Geld, das der Afghanistan-Veteran, Träger des Roten Sterns, Kommandeur der Besatzung eines Mi- 8, nicht besitzt. Seine Rente berechnet sich nach der Dienstzeit. Ein Tag im Spital zählt wie drei, deshalb hat Alexander Dunditsch rein rechnerisch fünfzig Jahre in der Armee gedient. Für dieses halbe Jahrhundert zahlt ihm der Staat eine Rente von monatlich sechseinhalbtausend Rubel. Zweihundertzwanzig Dollar.
«Im Moskauer Gebiet gab es vor einigen Jahren noch hundertzwanzig Invaliden der ersten Gruppe, die in Afghanistan gewesen waren. Heute ist es nur noch die Hälfte, bestimmt sind die anderen gestorben. Ist es denn so schwer, uns zu helfen? Hat die Regierung nicht das Geld, die Medikamente für ein halbes Hundert Veteranen zu bezahlen? Ich habe keine Angst zu sterben. Ich würde nur so gern noch leben …»
Der Arzt kommt, und Dunditsch wird zur Behandlung abgeholt. Wieder die Fisteln säubern. Wieder Antibiotika spritzen, die seine Nieren kaputt machen, die wiederum seine Fisteln nicht heilen lassen. Ein Teufelskreis, aus dem man sich nur mit Geld herauskaufen kann.
Ich trete auf die Straße. Der kleine Soldat mit den Verbrennungen ist nicht mehr da. Stattdessen ein anderer, mit zerschlagenen Beinen. Ich passiere den Kontrollpunkt und gehe über das Feld zum Bahnhof. Es duftet nach Sommer, nach frischgemähtem Gras. Wolken sammeln sich am Himmel – es wird regnen. Aber ich denke nicht daran.
Ich denke nur daran, dass hinter meinem Rücken im Krankenzimmer ein Mann stirbt, der zwölf Leben gerettet hat und der nun schon seit zwanzig Jahren für diese letzte Sekunde eines Krieges bezahlt, in dem seine Tapferkeit über die Todesangst siegte und er mitsamt dem Hubschrauber in den Abgrund stürzte.
Wenn er kein Geld für die Operation findet, wird er schon sehr bald sterben.
Steh auf und flieg
Es stimmt natürlich, dass heute, im Jahr 2005 , nur noch sehr wenige Helden der Sowjetunion übrig sind – insgesamt vielleicht neunhundert Mann. Und dass die Regierung diese neunhundert eigentlich auf Händen tragen müsste. Die Heldenorden haben sie schließlich nicht nachgeschmissen bekommen – sie haben wirklich Heldenhaftes dafür geleistet. Das ist wahr.
Genauso wahr ist, dass diese Männer, die besten des Landes, sich heute in einem Vakuum befinden – sie sind dem Staat zu nichts mehr nütze. Ihre Phantomschmerzen sind nichts im Vergleich zum Schmerz ihrer Seele. Aber wer selbst keine Seele mehr hat und die seelischen Phantomschmerzen nicht nachempfinden kann, der schenkt ihnen kein Gehör. Denn hungernde Helden – das ist das Ende für das Land, schlimmer geht es nicht.
Das alles ist richtig. So ist es. Aber schreiben möchte ich über etwas anderes. Über einen Menschen.
Jeder Journalist weiß: Über ein schmerzliches
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