Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
meinem Tag geworden. Weil man auch mich, den Tschetschenien-Veteranen, aus diesem Leben gestrichen hat. Diesen abscheulichen, von Anfang bis Ende verkauften Krieg scheint es nie gegeben zu haben. Die Informationsblockade hat sich langsam zu einem Informationsvakuum ausgewachsen, und über Tschetschenien darf man nur berichten, wenn Präsident Kadyrow einen neuen Aquapark in Grozny eröffnet. Oder die neuen Folgen der Krimiserie «Der Tobende» laufen. Die Geschichte wird global umgeschrieben, bis in die heutige Zeit – viel geschieht bei uns im Leben, das es offiziell gar nicht geben darf.
Die Herrschenden haben Angst vor der Vergangenheit, denn in einem Fall war die Messlatte zu hoch für die heutige Zeit und im anderen zu niedrig. Der von der Staatsduma gebilligte Versuch, die Siegesbanner zu vernichten, ist der logische Abschluss der Inszenierung einer globalen Reality-Show im ganzen Land.
Aber wir waren da. Wir sind da. Wir wollen uns in Erinnerung rufen, und wir wollen, dass man sich an die anderen erinnert.
Ich habe nicht mal ein Hundertstel dessen durchgemacht, was die Jungs bei Moskau, im Kursker Bogen und in Berlin erlebt haben. Ich weiß nicht, was es bedeutet, drei Jahre lang nur hundertfünfundzwanzig Gramm Brot am Tag zu bekommen.
Aber ich kann es mir vorstellen. Kann mir vorstellen, was für ein Krieg das war.
Lasst uns am neunten Mai einfach für fünf Sekunden niederknien. Wenn wir allein sind. Für niemanden. Weder für die Lebenden noch für die Gefallenen. Nur für uns.
Sollen sie uns diesen Krieg im Fernsehen zeigen, als Serienschmarren im Stil des «Strafbataillons». Dagegen kann man sich nicht wehren. Aber lassen wir uns unser Innenleben nicht zu einer TV -Serie verflachen. Jeder von uns macht Geschichte.
Und ich erinnere mich noch immer an dieses Geräusch zwischen Klingeln und Rascheln.
Wenn morgen Krieg ist
In den letzten fünfzehn Jahren haben wir unser altes Wertesystem vollständig zerstört, ohne ein neues aufzubauen. Dabei ist der Begriff des «wahrscheinlichen Gegners» geblieben. Die Zeit der Weltkriege ist vorbei, dafür sind wir in die Ära der lokalen, schwelenden, aber dauerhaften Kriege eingetreten. Und das eigene Land muss weiter verteidigt werden. Hier müssen die Interessen von Staat und Gesellschaft übereinstimmen.
Doch in unserer desillusionierten Zeit genießt der Beruf des «Vaterlandsverteidigers» kein besonders hohes Ansehen. Heute macht jeder sein eigenes Ding.
Deshalb haben wir uns gefragt – wenn morgen Krieg ist, findet sich dann noch jemand, der die Waffe in die Hand nimmt? Sind noch Menschen bereit, um der Pflichterfüllung willen auf ihre Rechte zu verzichten, oder lebt heute schon jeder für sich, und wir sind aus der einen Sackgasse geradewegs in die andere gestürmt?
So schlimm wie befürchtet ist es nicht. Auch wenn das Vertrauen der Gesellschaft in den Staat heute stark erschüttert ist – er selbst hat dazu allen Grund gegeben –, wissen die Menschen doch zwischen Kotelett und Fliegen, zwischen Land und Machthaber zu unterscheiden. Und wie sich herausstellt, sind gar nicht so wenige bereit, ihr Land zu verteidigen.
Und noch eine interessante Beobachtung: Der Patriotismus ist nicht mit dem Wohlstand korreliert. Bereitschaft zur Verteidigung ihres Landes zeigen die Menschen unabhängig von ihrer materiellen Lage, ihrem Beruf und ihrem Lebensstil.
Wir haben fünf Typen herausgearbeitet, die uns am repräsentativsten erschienen. Tatsächlich gibt es natürlich noch viel mehr. Unsere Helden sind schon an sich Persönlichkeiten. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte.
Der Idealist
Solche Menschen sind selten. Ihre Anzahl bleibt in der ganzen Welt immer ungefähr gleich – fünf bis zehn Prozent. Aber sie sind es, die der Menschheit eine Richtung vorgeben.
Ilja Plechanow wurde 1977 in der Akademiesiedlung (Akademgorodok) von Nowosibirsk geboren. Er entstammt einer Intellektuellenfamilie – der Vater war Mathematiker und wurde später KGB -Offizier, die Mutter lehrte an der Universität. Er besuchte in der Moskauer Georgiew-Gasse (gleich hinter der Staatsduma) eine Eliteschule mit der Fachrichtung Fremdenführer und Dolmetscher. Das Lehrprogramm enthielt Fächer wie Architektur, Kunstgeschichte, Religionsgeschichte. Und Sprachen: Englisch, Italienisch, Schwedisch.
Lange Zeit lebte Ilja in Australien, wo er später die Universität von Neusüdwales mit einem Bachelor in Wirtschaft und Informationsverarbeitung abschloss. Seine
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