Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
restlichen Monate – das ist das Verlogene.
Wie bei dem Flüchtling Jurij Timofejewitsch Lopatin, jenem Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Träger von fünf Orden und unzähligen Medaillen, den man mit allen Mitteln aus seiner Wohnung in der Pretschistenka zu vertreiben versucht hatte. Als ich ihn zum sechzigsten Jahrestag des Sieges dort besuchte, um ihm zum Jubiläum zu gratulieren, ging es ihm sehr schlecht, und ich verstand, dass er sich nicht mehr aufrappeln würde. Er war niemandem mehr zunutze.
Durchs Fenster konnte man damals, am neuntenMai 2005 , hören, wie der Präsident des Landes auf dem Roten Platz ganz zutreffend von Pflicht und Vaterland redete und die Sprecher die Glanztaten der Veteranen rühmten. Zur Verschönerung der Hauptstadt waren Millionen rausgeschmissen worden, und in ganz Moskau hingen diese höhnischen Plakate: «Frontsoldaten, legt eure Orden an, das ganze Land ist stolz auf euch!»
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Aller Privatisierung, Monetarisierung und banaler Ausplünderung durch den Staat zum Trotz sind unsere Alten noch nicht ganz ausgestorben. Wie unbequem das auch sein mag.
Indem wir uns der eigenen Geschichte berauben, berauben wir uns auch der Zukunft. Unsere Vergangenheit ist unsere Zukunft. Ein Land, das seine Alten vergisst, ist seiner Existenz unwürdig. Schon deshalb, weil die Erinnerung eine ebenso praktische Sache ist wie das Geld – es bedeutet langfristige Investitionen in die Zukunft.
Verraten sind nicht nur unsere Alten – verraten sind auch wir selbst und unsere Kinder. Was können wir ihnen heutzutage beibringen, wenn wir sie ins Theater führen, in den Zirkus oder in ein Café, durch die Unterführung, in der mit ausgestreckter Hand unsere Veteranen stehen? Was pflanzen wir ihnen schon als Kindern ein? Warum bringt der Staat meine Kinder dazu, dass sie als Charakterschweine aufwachsen? Nach seinem Ebenbild?
Heute einem alten Menschen zu begegnen ist einfach furchtbar. Denn solch eine Begegnung zerstört die Grundfeste der Weltanschauung, die ich in meinen Kindern zu festigen versuche. Die innere Welt tritt in einen Widerstreit mit der umgebenden Realität, die zwangsläufig siegt – schließlich ist sie die Realität.
Ich weiß nicht, ob ich meine Kinder jemals zum neunten Mai in den Gorki-Park werde führen können. Bis heute habe ich noch keine Worte gefunden, die ich ihnen dann sagen müsste. Jene einfachen und somit einzig wahren Wahrheiten, die man mir in der Kindheit beigebracht hat – Ehre, Pflicht, Gewissen, Mut, Tapferkeit –, sie klingen in unserer Zeit verloren und hohl. Es verbietet sich, bei einem im Elend lebenden Menschen von Würde zu sprechen.
Waren wir erst im Erwachsenenalter gezwungen, unsere Ideale zu verraten und zynisch zu werden, uns an dieses allen Idealen hohnsprechende Leben anzupassen, so lernen unsere Kinder schon von Geburt an, die Alten zu erniedrigen. Und sie sind darin viel gelehriger als wir. Man wird sich nicht wundern dürfen, wenn in dreißig Jahren alte Leute wegen eines Einkaufsnetzes mit Leergut am Zaun totgeprügelt werden. Das sind unsere Investitionen in die Zukunft.
Eine scheinbar banale Wahrheit. Doch um sie zu begreifen, reichten keine fünfzehn Jahre.
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Man kann viel über die Verantwortung der Herrschenden für das Volk reden. Aber das Volk ist auch für sich selbst verantwortlich. Ein Bekannter von mir, der in Israel lebt, erzählte mir, dass es dort keine Kinderheime und Altenheime gibt – einfach weil es keine verwaisten Kinder und verlassenen Alten gibt. Mich freute das, natürlich, es schien mir aber irgendwie abstrakt – ein fremdes Land, fremde Leute. Bei unserem Staat wäre das unmöglich.
Und dennoch – es ist möglich. Im Kaukasus gibt es keine Kinderheime und keine verlassenen Alten. Derselbe Staat, dieselbe Regierung, dieselbe Zeit.
Lopatin hat am Ende doch gesiegt. Er ist nicht gestorben, sondern wieder gesund geworden. Er hat diesen Staat gezwungen, ihm die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Und ihm eine Wohnung zu geben – wenn auch nur ein Zimmer, wenn auch im elften Stock und ohne Ausstattung, nicht im Zentrum, aber er hat sie bekommen. Das ist ein Sieg. Doch um diesen Sieg zu erringen, brauchte Jurij Timofejewitsch zwölf Jahre und die Hilfe eines halben Dutzends Journalisten, darunter der Beobachter der
Trud
.
Was meintet ihr da auf den Plakaten – «Frontsoldaten, legt eure Orden an» –, ist wirklich das ganze Land stolz auf euch?
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Vor einiger Zeit ist der neunte Mai auch zu
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