Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
warnen, dass morgen der Abriss des Hauses beginnen würde, und wenn sie es nicht gutwillig räumen, dann seien sie selbst schuld.
Man kann sich vorstellen, was fünfzig Quadratmeter an der Pretschistenka heißen, fünf Kilometer vom Kreml entfernt, in einem einzeln stehenden zweistöckigen Flügel eines ehemaligen Herrensitzes. Das ist mehr wert als eine eigene Erdölquelle.
«Alle drei Monate kriegen die Beamten einen Anfall. Vierzig Quadratmeter – das ist ja nur diese eine Wohnung. In unserem Aufgang gibt es vier davon. Zwei Aufgänge. Rechnen Sie mal nach, wie viel Geld das ist. Wohin sollen wir? Das kümmert niemanden. Eine Ersatzwohnung kriege ich natürlich nicht. Mir bleibt zum Wohnen nur der Bahnhof.»
Sein Blick flammt wieder auf, der Zeigefinger wandert in die Höhe.
«Aber ich bitte sie nicht um eine Wohnung, wenn sie so bettelarm sind! Ich kann mir selbst eine Wohnung kaufen! Gebt mir nur mein Geld zurück! Russland als Rechtsnachfolger der U d SSR schuldet mir zwei Millionen Rubel, in heutigem Geld. Ich habe das Finanzministerium angeschrieben – die wissen nicht, wohin mit dem Geld, haben diesen riesigen Stabilisierungsfonds … Ich sage: Artikel neun des ‹Gesetzes über Auszahlungen und Kompensationen› gestattet es, in Notfällen solche Zahlungen vorzunehmen. Ich bin der Meinung, bei mir liegt so ein Notfall vor – ich werde auf die Straße gesetzt, was könnte schlimmer sein? Gebt mir mein Geld, ich kaufe mir eine Wohnung, das ist ein Klacks für den Staatshaushalt! Sie lehnten ab. Im Haushalt gibt es keinen Posten mit dem Titel Jurij Lopatin.»
Er verstummt wieder. Im Nachbarzimmer hört man den Fernseher. Die gleiche Stimme, die sonst von der kriminellen Unterwelt berichtet, verkündet heute die Heldenleistungen unserer Veteranen.
Ich habe Jurij Timofejewitsch vor drei Jahren kennengelernt. Ich drehte gerade einen Bericht über Flüchtlinge – damals konnte man beim Fernsehen noch etwas über Flüchtlinge bringen –, und Lopatin war die Hauptfigur. Ich ging mit ihm in eine Poliklinik.
«Guten Tag, ich bin Flüchtling. Ich habe keine Papiere, ich brauche Hilfe …»
Man komplimentierte uns aus der Poliklinik hinaus. Um in einer staatlichen Einrichtung zu drehen, braucht es eine Sondergenehmigung. Um einem alten Mann zu helfen, offensichtlich auch.
Dann liefen wir die Präfekturen, die Ämter und weitere Einrichtungen ab. Überall das Gleiche. Leute mit Schlips und Kragen an gediegenen, stoffbezogenen Tischen erzählten mir, warum Lopatin nicht in Moskau leben darf. Auf meine Frage «Aber wo soll er sonst leben?» zuckten sie nur die Schultern und erzählten wieder etwas vom Gesetz und davon, dass sie es beachten müssten. «Sie verstehen.»
Ich hörte nicht mehr zu. Ich dachte darüber nach, dass der Wert eines Menschenlebens relativ ist. Hundert Leben solcher Anzugtypen wiegen ein Leben von Lopatin nicht auf. Dann dachte ich an den BMW , der am Eingang dieser Behörde stand, und daran, dass ein Quadratmeter in der Pretschistenka ab fünftausend Dollar aufwärts kostet.
Im November letzten Jahres hat Jurij Timofejewitsch Lopatin die Staatsangehörigkeit dann doch bekommen. Zwölf Jahre hat er dafür gebraucht. Zwölf! Mit den Deutschen lag er vier Jahre im Kampf. Mit den eigenen Landsleuten – exakt dreimal so lange.
Jetzt fehlt noch die Anmeldung. Die nächste Etappe seines ganz persönlichen Krieges, das nächste Amtszimmer, das nächste Gesicht hinter dem Schreibtisch, der nächste Feind. Nunmehr in Milizuniform.
«Also. Nikolaj Konstantinowitsch Iwankin, Major. Leiter der Pass- und Visa-Abteilung der Innenverwaltung von Moskau für den Rayon Chamowniki. Der Mann ist dazu verpflichtet, mich in dieser Wohnung anzumelden. Verpflichtet, verstehen Sie?» Der Zeigefinger bohrt sich in die Decke. «Ich brauche seine Erlaubnis nicht. Die Anmeldung ist keine Ermessenssache, sondern Pflicht. Wenn ich zu ihm komme und sage: ‹Melde mich am Twerskoj-Boulevard an, Bank Nummer zwei› – dann ist er dazu verpflichtet. Und mir ist piepegal, wie. Vor drei Monaten war ich bei ihm. Natürlich hat er sich geweigert. Ich schickte eine schriftliche Anfrage – aus welchem Grund? Von Gesetzes wegen hätte er mir innerhalb von zehn Tagen antworten müssen, jetzt sind schon drei Monate um, und ich höre nichts … Jetzt muss ich Klage gegen die Verwaltung des Präsidenten einreichen. Das ist die letzte Instanz. Weiter oben gibt es niemanden mehr, mit dem ich kämpfen kann.»
Wie ich
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