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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arkadi Babtschenko
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ihn so ansehe, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass meine Zukunft auf diesem Bett liegt, mit wächsernem Gesicht und der gelben Haut am Haaransatz. Genau so werde auch ich in fünfzig Jahren auf einem alten Sofa liegen und zum elften Dezember einen Wecker in Geschenkverpackung und eine Medaille für die Befreiung Groznys bekommen, die dann im Regal verstauben wird, dazu eine Elendsrente. Und die Sprecher im Kreml werden rufen, was für klasse Jungs wir sind, dass wir ihnen die Stirn geboten haben. Ein weiterer überflüssiger Veteran eines völlig überflüssigen Krieges.
    Auch ich habe ein übersteigertes Gerechtigkeitsgefühl.
    Ich stehe auf, notiere mir Telefonnummer, Namen, Gesetzesartikel. Morgen werde ich anrufen, rumschimpfen, argumentieren …
    Ich tue das nicht für ihn, sondern für mich. Der Krieg – seiner und meiner – geht weiter.
    Draußen so ein großartiger Blick auf die hell erleuchtete Pretschistenka. So schöne Mercedes parken am Bordstein vor dem Haus, in dem ein völlig überflüssiger Veteran des Großen Vaterländischen Krieges im Sterben liegt, der als Aufklärer des 177 . Garderegiments der 60 . Gardeschützendivision bis Berlin gekommen ist, Reserveoberst Jurij Timofejewitsch Lopatin.

Der neunte Mai
    Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit bietet sich mir ein und dasselbe Bild. In der Unterführung der Metrostation Borowitzkaja zur Station Lenin-Bibliothek, hinter einer Säule aus grauem Marmor, steht eine alte, gebeugte Frau. Ein Daunentuch. Ein Stock, auf dem sie ihre trockene Hand ruhen lässt. Ein dunkelblaues Herbstkleid, das bestimmt dreißig Jahre alt ist. Der Brillenbügel mit schmutzigem Heftpflaster zusammengeklebt.
    Ein für unsere Zeit und unser Land normales Bild, sollte man meinen. In jeder Fußgängerunterführung eine alte Frau oder ein alter Mann. Diese Frau aber unterscheidet sich von den anderen.
    Als ich sie sah, verstand ich sofort, wodurch. Mir hat das zu denken gegeben.
    Sie bittet nicht um eine milde Gabe. Sie fordert nicht. Sie macht ein Angebot.
    Sie bietet uns an, für einen Moment in uns hineinzusehen und die Frage zu beantworten: Wer sind wir? Ihre Handfläche ruht exakt so schwer auf dem Stock, dass das nicht als unterwürfige Bitte um ein Almosen gedeutet werden kann, sondern nur als Angebot an die Gesellschaft, ihre Pflicht gegenüber dem Alter zu erfüllen. In dieser Unterführung sucht sie die Antwort auf die Frage: Ist noch etwas übrig geblieben von dem Land, für das sie gekämpft hat, oder ist es endgültig gestorben?
    Denn die gesamte linke Seite ihres Mantels ist mit Orden und Medaillen behängt. Ich weiß nicht mehr, wie viele es sind und was für welche – es ist mir peinlich, genauer hinzusehen. Aber viele sind es, das weiß ich sicher, der Mantel ist fast vollständig davon bedeckt.
    Ich erinnere mich, wie mein Vater und meine Mutter mit mir als Kind zum Tag des Sieges in den Gorki-Park gingen und ich, ein fünfjähriger Bengel, den Opas und Omas in Uniform meine Kinderzeichnungen vom Krieg schenkte. Wenn sie sich dann zu mir herunterbückten, machte das so ein Geräusch zwischen Klingeln und Rascheln, als würde Gestein rieseln. So viel hing an jeder Uniformjacke. Das Wort «Veteran» weckte bei mir damals vermutlich die gleichen Gefühle wie bei den Jungen der Sechziger das Wort «Gagarin». Ich war stolz auf sie.
    Der Krieg lebt genetisch in uns fort. Allzu oft hat Russland Krieg geführt. Allzu viele Menschen sind durch diese Kriege gegangen. Vom letzten großen Krieg, dem fürchterlichsten in der Geschichte der Menschheit, haben wir uns bis heute nicht erholt. Dreißig Millionen Tote. Denkt euch nur einmal in diese Zahl hinein – dreißig Millionen! Die Bevölkerung eines ganzen kleineren Landes. Hinzu kommen noch die Verwundeten.
    Aber das Schlimmste ist nicht, dass wir eine so katastrophale Zahl an Menschen verloren haben. Das Schlimmste ist, dass wir sie verraten haben. Sowohl diese dreißig Millionen Gefallenen als auch Gott wissen wie viele Millionen Überlebende.
    Es gibt heute kein einheitliches Russland im Sinne eines einheitlichen Landes. Unsere Gesellschaft ist in sozialer Hinsicht katastrophal zersplittert. Es gibt Dutzende verschiedener Parallelwelten, die nie miteinander in Berührung kommen – das Veteranen-Russland ist eines von ihnen. Ein ganzes Volk, das sein eigenes Leben lebt und das wir immer nur am neunten Mai, dem Tag des Sieges, wahrnehmen.
    ***
    Ein Wecker als Präsent und eine Elendsexistenz für die

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