Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Familie war ein stabiles Mitglied der Middle-Upper-Class, verdiente im Jahr etwa einhunderttausend Dollar und hätte sich, wenn sie wollte, eine Yacht oder einen Hubschrauber leisten können. 1995 warf er alles hin und ging als Freiwilliger nach Jugoslawien. 2000 kehrte er nach Russland zurück.
«Ich war vierzehn, als wir ausgewandert sind. Das Imperium war zusammengebrochen, im Land herrschte das Chaos, mein Vater konnte es nicht mit sich vereinbaren, weiter im Dienst zu bleiben, und kündigte. Die neunziger Jahre brachen an, und die Gehälter waren lächerlich. Er verdiente sich als Hausmeister oder auf dem Bau etwas dazu. Es gab Zeiten, da haben wir richtig gehungert, bei Grießbrei und Wasser. Mein Vater hatte schon einen Namen in der Wissenschaft, er bewarb sich in mehreren Ländern als Einwanderer. Aus Australien kam sofort eine Einladung.
Nach der Ankunft gab man uns eine provisorische Wohnung im muslimischen Viertel, gegenüber der Moschee. Ich komme ja aus der U d SSR , für mich sind alle Menschen Brüder, Internationalismus ist dort selbstverständlich. Ich hatte Juden, Tataren, Polen als Freunde, kein Problem. Hier fuhr man mich am zweiten Tag in ein Lager für minderjährige Einwanderer. So eine Spezialabteilung hinter Stacheldraht und mit Hunden, wo Bildung und Sprachkenntnisse getestet werden. Ich war der einzige Weiße und der einzige Nicht-Moslem. Mit einem blöden Grinsen im Gesicht spielte ich gleich den Macker, rempelte jemanden an – so zur Selbstbestätigung gewissermaßen. Die erste Frage: Woher kommst du? Ich sage: Aus der Sowjetunion. Sowjetunion? Wir sind aus Afghanistan. Schon kommen zwei, drei, um es mir zu zeigen. Nach dem Studium der Ikonen von Andrej Rubljow, den Fresken und den Filmen von Tarkowskij war das … Der Internationalismus zeigte schon am zweiten Tag Risse in meinem Bewusstsein.
Sofort ging das Gerücht, ich sei ein Roter, ein Kommunist. Schon nach drei Stunden gab es erste Versuche, mich umzubringen. Aber ernsthaft. Die Afghanen oder irgendwelche anderen Moslems drückten mich in die Ecke, ich verstand nichts. Man erklärte mir, es gebe den großen Satan – die USA – und den kleinen Satan – die U d SSR . Und als Vertreter des kleinen Satans sei ich zu vernichten. Irgendwelche Jungs aus Beirut versuchten, mit Allahu-akbar-Rufen den gemeinen Christen fertigzumachen, obwohl mir damals nicht einmal klar war, dass ich Christ bin. Die ersten Tage waren Prügeleien ohne Ende. Auf meine Seite stellten sich Vietnamesen mit dem Ruf ‹Sie haben uns geholfen›, irgendwelche Partisanen aus Salvador, undefinierbare Araber … In diesem Lager haben sie mich nur deshalb nicht umgebracht, weil dort Serben waren. Die kamen von allein zu mir und sagten: Bruder, Slawe, Orthodoxer, sprichst Russisch. Und sobald ich in dieser slawischen Bande war, hörten die anderen auf, mich zu triezen. Die Welt war von da an für mich polarisiert. Ich verstand, dass ich vor allem Russe bin. Was ich vorher nicht gekannt hatte – Russlands Geschichte, seinen Glauben, seine slawischen Wurzeln –, all das erfuhr ich von den Serben. Sie öffneten mir meine eigene Welt. Eine seltsame Zeit war das. Ich, der keiner Kultur angehörte, fand in diesem harten Lager zu meinen tausendjährigen Wurzeln zurück.»
«Warum bist du nach Jugoslawien gegangen?», frage ich ihn.
«Der Krieg in Jugoslawien war für mich vor allem ein Krieg gegen meine Kultur, gegen die Zivilisation, der ich angehörte. Ein Zusammenstoß der Welten – dorthin machten sich Menschen von beiden Seiten auf. Das war ausschließlich meine Entscheidung. Niemand hat mich angeworben, niemand hat überhaupt nur mit mir darüber geredet. Von Söldnertum kann gar nicht die Rede sein. Wie pathetisch das auch klingen mag, ich wollte für Russland eintreten. Denn alles, was in Russland geschah, vollzog sich auch in Jugoslawien, nur in beschleunigtem Tempo.
Ein Fünkchen Romantik war natürlich dabei, aber es war eine bewusste Entscheidung. Gleich nach dem Abschlussball fuhr ich dorthin. Stell dir vor, teure Schule, Limousinen, Yachten, Salut … Und wenige Tage später bin ich schon im Krieg.
Der ganze Ärger spielte sich in der Republik Srpska Krajina ab, das sind die serbischen Gebiete, die bei Tito unter kroatische Verwaltung gekommen waren. Wie bei uns die Krim unter ukrainische. Aber diese Feinheiten interessierten mich damals gar nicht. In meiner Vorstellung war das kein Krieg der Ethnien und Religionen, das habe ich erst später
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