Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
versprochene Amnestie bei vollem Licht zu sehen:
«‹Weißes Haus› – so hieß dort ein von seinen Bewohnern verlassenes Gut. Darin fanden im Laufe von zwei Jahren täglich Erschießungen statt. Die zweitausend Matrosen von Kronstadt wurden innerhalb von drei Tagen erschossen. Der Gestank der verwesenden Leichen verseuchte die Luft im Umkreis von Kilometern. Der schreckliche Ruhm des ‹Weißen Hauses› wurde noch dadurch verstärkt, dass die Leichen der Gehenkten nicht fortgeschafft wurden. Gegen Ende 1922 waren sämtliche Räume des ‹Weißen Hauses› bis zur Decke mit Leichnamen vollgestopft …
Die Praxis der grausamen Repressionen gegen Verwandte der Aufständischen wurde zu einem komplexen Terrorsystem weiterentwickelt. Alte Tschetschenen wurden als Geiseln für ihre Söhne, die sich den Partisanen angeschlossen hatten, in Haft genommen. Die ganze Gruppe wurde dann zum Sekir-Berg geschickt, in einen ‹steinernen Sack› gesteckt und bis zur Bewusstlosigkeit mit ‹Smolensker Knüppeln› geprügelt. Der älteste dieser Tschetschenen war hundertzehn Jahre … Bei den ‹steinernen Säcken› handelte es sich um drei bis vier Fuß lange, von den Mönchen einst zur Aufbewahrung von Lebensmitteln in den Fels gehauene Kellerlöcher. Sie besaßen keine Türen, Verpflegung wurde von oben durch kleine Öffnungen gereicht. Kroch der Verhaftete mit den Beinen zuerst hinein, wurde er auf den Kopf geschlagen. Zwängte er sich mit dem Kopf zuerst hinein, dann prügelte man ihn mit ‹Smolensker Knüppeln› auf Rücken und Beine, so lange, bis der ganze Körper im Sack war. Dieser war zu eng, als dass man darin sitzen konnte, und zu niedrig, als dass man stehen konnte. Daher musste der Gefolterte in kniender Stellung mit nach vorn gestrecktem Kopf dort ausharren. Die Dauer des Aufenthalts in dem Sack betrug zwischen drei Tagen und einer Woche. Nur wenigen gelang es, diese mittelalterliche Peinigung zu ertragen.»
Fluchtversuche von der Insel hatte es natürlich auch vorher gegeben, doch waren sie alle gescheitert. So wie jener der Gruppe Zchirtladse. Die Männer bemächtigten sich eines Bootes, fuhren eine Woche ohne Navigationsmöglichkeit übers Meer, und als sie endlich ans Ufer gespült wurden, waren die Flüchtlinge so erschöpft, dass sie einfach nur an Land stürzten und ein Lagerfeuer machten. Dort wurden sie von einem Konvoi entdeckt. Die Tschekisten warfen zwei Granaten ins Feuer. Vier der sechs Mann waren auf der Stelle tot, zwei, darunter Zchirtladse, wurden mit abgerissener Hand und Splitterwunden an den Beinen ins Lager geschleppt und ein bisschen aufgepäppelt, nur um dann grausam gefoltert und am Ende erschossen zu werden.
Da war zwar auch noch der Student Nikolajew, der im örtlichen Kontor arbeitete. Ihm gelang es, zu einer richtigen Dienstreise aufs Festland geschickt zu werden. Er verließ die Insel ganz offiziell. Von dort schickte er einen Brief ins Lager mit der Mitteilung, dass er nicht an eine Rückkehr denke. Doch diese Dienstreise kann man wohl nur schwerlich als Flucht bezeichnen.
Mal’sagow begriff, dass eine Flucht von der Insel selbst unmöglich war. Aber er hatte Glück. Er wurde zum Vorarbeiter ernannt, der die Häftlinge zur Arbeit einteilte, was ihm die Gelegenheit gab, eine Brigade aus seinen Leuten zusammenzustellen und sie zum Holzeinschlag ans Festlandsufer zu schicken. Das war die einzige Chance.
Am frühen Morgen des achtzehnten Mai 1925 wurden zwei Häftlingspartien zur Arbeit geführt. Die eine, die aufs Festland sollte, bestand aus Bessonow, dem Gruppenkommandeur, Initiator und Organisator der Flucht, Mal’sagow, den Polen Malbrodzki und Sazonow sowie dem Kosaken Pribludin. Die zweite Partie sollte zum Fußbodenscheuern in die Kasernen geschickt werden. Im letzten Moment drohte die Operation noch zu scheitern. Die Führung meinte plötzlich, die Jammergestalten aus Bessonows Gruppe könnten keine Bäume fällen, und wollte die Plätze der Partien tauschen. Mal’sagow stellte sich dumm und schickte die Gruppe auf eigenes Risiko aufs Festland, tat also, als hätte er den Befehl nicht verstanden.
Bis um acht Uhr morgens fällten sie wie vorgesehen Bäume und warteten auf das Signal des Kommandeurs. Als Bessonow seinen Kragen hochstellte, stürzte sich die Gruppe auf die Bewacher und entwaffnete sie. Mal’sagow wollte sie zunächst erschießen, doch Bessonow war damit nicht einverstanden. Der Kosake Pribludin, der nichts von der geplanten Flucht wusste, fiel
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