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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dina Nayeri
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Tomatenfleck am Saum ihres Kleides klagte, und als Reza einen roten Filzstift nahm und den ganzen Saum mit roten Flecken bemalte, damit es aussah wie ein Muster, verpetzten die eifersüchtigen kleinen Mädchen ihn. Und ich zog ihn weg und schimpfte ihn aus, weil er das beste Kleid des armen Mädchens ruiniert hatte. Wenn ich doch nur begriffen hätte, warum er das getan hatte … die gute Seele. Später spielte er auch mit den Hafezi-Mädchen, weil Reza nämlich ein lieber Junge ist. Es war das Spiel, das alle Jungen gern spielten: Er musste versuchen, die beiden zu erkennen, nachdem er die Augen geschlossen und sie gebeten hatte, die Plätze zu tauschen.
    Ich ertappte ihn noch einmal mit Ponneh. Sie saßen sich im Hof gegenüber, sodass ihre Füße sich berührten und ihre aufgeschürften Knie und der filzstiftfleckige, unter die Beine geraffte Rock Ponnehs einen Diamanten formten. Und als sie ihn bat, ihr eine Geschichte zu erzählen, tat er es und setzte an den schönsten Stellen ihren Namen ein. Dann spielte er Fußball mit seinen Freunden, bis Mahtab so tat, als würde sie ohnmächtig, und er kam angelaufen, um sie zu retten, weil mein Reza nämlich ständig andere retten will. Die Jungen bauten aus drei großen Kissen ein Fantasiekrankenhaus, und Reza spielte den Arzt und holte sie ins Leben zurück. Plötzlich schrie Saba laut, sie läge im Sterben und bräuchte alle Aufmerksamkeit, und den Rest des Nachmittags erlag Reza der Macht der Zwillingshexen und ihrer tausend Dschinn.

Kapitel Siebzehn
    Sommer 1992
    W as macht Mahtab jetzt? Ist sie verheiratet? Träumt sie davon, Mutter zu sein? Wahrscheinlich nicht. Vermutlich nimmt ihre Karriere sie zu sehr in Anspruch. Die Blutung ist wieder da. An ihren freien Tagen fährt Saba zur Universität in Rasht, wo ein Freund ihres Vaters, ein Professor, ihr gestattet, seine medizinischen Bücher und Fachzeitschriften zu durchforsten, die gespickt mit Fachausdrücken sind, die sie in seinen abgegriffenen, mit Bleistiftmarkierungen versehenen Latein-, Englisch- und Farsi-Wörterbüchern nachschlägt. Er fragt nicht, wonach sie sucht. Er bietet ihr Tee an und schließt die Tür hinter sich, damit sie allein sein kann. Sie sitzt auf dem Boden und liest über Schwangerschaft und unregelmäßige Blutungen, rätselhafte Krankheiten und medizinische Diagnosen. Sie liest die Geschichten anderer Frauen in Fachzeitschriften. Nach einer Weile wird ihr deren kollektives Leiden zu viel, und sie blättert weiter.
    Sie denkt auch viel über ihr Erbe nach. Was, wenn sie gar keins bekommt?
    Sie leben in Abbas’ Haus. Es ist das erste Mal, dass Reza in einem westlichen Bett schläft. Er passt gut hinein, denkt sie jedes Mal, wenn sie erwacht und sich über ihn streckt, wie sie sich das einst erträumt hat. Wenn er die Augen aufschlägt und die erste Erkenntnis, wo er jetzt lebt, ein Lächeln auf sein Gesicht zaubert, ist sie glücklich, ihm so viel schenken zu können – etwas von ihr, wie in ihren Kindertagen, als sie ihm ihre Musikkassetten anbot.
    Nein
, denkt sie.
Geld wird nie zwischen uns stehen. Das hat es noch nie getan.
    Morgens holt Reza für sie beide Tee und büffelt dann über seinen Landwirtschaftsbüchern, während sie Walkman hört und liest oder schreibt. Sie sitzen stundenlang im Bett, während Reza für die Aufnahmeprüfung an der Hochschule lernt, die er vor Jahren schon hätte ablegen sollen, für die er aber erst jetzt die Mittel hat. Er verdingt sich nicht mehr mit Gelegenheitsarbeiten, aber um seiner Mutter eine Freude zu machen, verkauft er noch immer ihre Handarbeiten. Falls er besteht, wird er Agrartechnik an der Gilan-Universität in Rasht studieren. Er wird so jemand werden können wie Sabas Vater, und das nur durch Sabas Hilfe. Was für ein wunderbares Gefühl. Manchmal, in ihren Tagträumen von Mahtab und James und Cameron, fragt sie sich, ob ihre Schwester das Gefühl kennt, einem so innig geliebten Menschen zu helfen.
    Vielleicht wird Mahtab diese kleine Freude niemals kennenlernen, weil die Männer um sie herum für sich selbst sorgen können. Aber Mahtab wird sich im Gegensatz zu Saba auch nie fragen müssen, wie es ihr wohl gefiele, Journalistin zu sein, im Bleistiftrock durch ein Büro zu flitzen, Länderstempel im Pass zu sammeln, Flugzeuge zu besteigen, um zu unbekannten Orten zu fliegen und dort Geschichten zu finden, die westliche Leser interessieren.
    An den meisten Tagen geht sie ins Bad, bevor Reza erwacht. An manchen Tagen will die Blutung

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