Ein Toter hat kein Konto
verdiente. Ein Kabriolett älteren Modells,
das ich sehr gut kannte, parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Joëlle
starrte zu den geschlossenen Fensterläden des verstorbenen Arztes hinauf. Ich
lief zu dem jungen Mädchen hin, doch die Kleine startete den Motor und fuhr
davon. Vielleicht war ihr Dienst beendet; vielleicht jedoch hatte sie mich
erblickt und das Weite gesucht, weil sie sich um keinen Preis mit mir
unterhalten wollte. Ich sah dem Wagen hinterher, der um die nächste Straßenecke
bog.
„Verscheuchen Sie junge Mädchen immer so?“
lachte Hélène.
„Diese hier hab ich heute schon zum zweiten Mal
verscheucht“, erwiderte ich. „Und dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher, als
in meine Arme zu sinken. Es ist Flauvignys Tochter.“
„Sah traurig aus, die Kleine.“
„Ein komischer Vogel ist Flauvignys Tochter! Ich
möchte bloß wissen, was sie hier wollte...“
Als ich zum zweiten Mal „Flauvignys Tochter“
sagte, klickte es in meinem Hirn. Verflixt und zugenäht! Ihre Augen! Ihre
Augen, die auf diese Fenster starrten, hinter denen die sterblichen Überreste
von Dr. Péricat, in der Morgue sorgfältig untersucht und ordentlich
herausgeputzt, noch ein paar Stunden ruhen würden, bevor die Leiche ihre letzte
Reise antreten würde. Diese haselnußbraunen Augen, die in feierlichen Momenten
ins Kastanienbraune spielten! Und dann die anderen Augen, die blauen, die von
Flauvigny sen. und jun.! Die braunen Augen von Joëlle und Péricat! Georges
Péricat, seit ungefähr zwanzig Jahren Freund des Hauses Flauvigny! Solche
Geschichten spielen sich meistens unter guten Freunden ab... Wenn der Doktor
kein Bilderstürmer gewesen war, mußte ich die Bestätigung für meine Vermutung
in seinen Dokumenten finden.
Von einem nahen Café aus versicherte ich mich
telefonisch, daß niemand in der Wohnung war.
„Los, gehen wir!“ sagte ich zu Hélène. „Kein
Flic weit und breit zu sehen. Wenn er das Mädchen beobachtet hätte, hätten wir
unsererseits seine Fußspitzen im Spalt der Haustür bemerkt... Übrigens, sollte
die Concierge Sie fragen, sagen Sie nur, Sie wollen zu Macé. Der wohnt auch in
dem Haus. Das wird zwar sowohl Ihrem als auch seinem guten Ruf schaden, aber
was soll’s... Warten Sie in der dritten Etage auf mich.“
Meine Sekretärin betrat vor mir das Haus.
Während sie schnurstracks die Treppe hinaufging, näherte ich mich der
Conciergesloge. Eine mächtige Frau saß, in eine Zeitung vertieft, mit dem
Rücken zum Hausflur. Ich sah keinen Grund, ihre Lektüre zu unterbrechen, und
huschte vorbei. Doch die Instinkte der Frau funktionierten tadellos. Sie drehte
sich zu mir um. Ich betrat ihr kleines Zimmerchen.
„Polizei“, knurrte ich im Polizeiton, um jeden
Zweifel zu zerstreuen. Gleichzeitig hielt ich ihr einen Ausweis hin, den die
Farben der Trikolore schmückten: die Mitgliedskarte der Vereinigung ehemaliger
Kriegsgefangener, die mir gegen eine geringe Gebühr ausgehändigt worden war.
„Ist der Kommissar oben?“
Ich nahm nicht an, daß die Concierge mich
wiedererkennen würde. Bei meinem gestrigen Besuch hatte ich keine Auskunft von
ihr gebraucht, da auf einem Schild neben dem Eingang angegeben war, wo der Arzt
seine Kunst ausgeübt hatte.
„Ach!“ seufzte die Frau. „Sie sind wegen dem
armen Doktor hier! Nein, die Herren von der Kripo sind schon wieder weg. Waren
hier, aber sind schon wieder weg. Und einer war dabei, der hat mir die Treppe
mit seinen Latsch... seinen Schuhen versaut..
„Meine sind sauber“, beruhigte ich sie. „Ich
gehöre nämlich zur eleganten Truppe. Also, ich geh dann mal hinauf. Wenn die
anderen kommen, sagen Sie mir bitte Bescheid. Ist die Haushälterin in der
Wohnung?“
„Nein, wo denken Sie hin! Sie ist zu einer
Verwandten in die Rue Nicolo geflüchtet. Die Schlüssel hat sie mir
hiergelassen, für alle Fälle. Brauchen Sie sie?“
Ich nahm die Schlüssel und tat gut daran. Der
Schlüsselbund nämlich, den ich zunächst für meinen gehalten hatte und der mir
nicht gehörte, hatte ebensowenig dem Toten gehört. Entgegen meiner Annahme
paßte keiner der Schlüssel ins Schloß. Ich fragte mich, wem sie denn dann wohl
gehörten, verschob die Lösung des Problems aber auf später. Mit Hilfe der
Schlüssel, die mir die Concierge gegeben hatte, betraten Hélène und ich die
Wohnung.
Hier und da waren noch die Spuren der polizeilichen
Durchsuchung zu sehen, obwohl die Haushälterin sich bemüht hatte, Ordnung ins
Durcheinander zu
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