Ein Traum in roter Seide
ziemlich schamlos gaben sie zu erkennen, dass sie mehr von ihm wollten als einen kurzen Flirt. Da ihm so etwas wahrscheinlich immer wieder passierte, konnte Michelle sich gut vorstellen, wie lästig es ihm sein musste.
Sie hielt sich an seinem Arm fest und wagte nicht, zur Toilette zu gehen, obwohl es nach mehreren Gläsern Champagner wirklich nötig gewesen wäre. Als es sich schließlich nicht mehr vermeiden ließ und 44
sie ihn kurz allein lassen musste, befürchtete sie, dass die Frauen wie Vampire über ihn herfallen würden.
Doch als sie zurückkam, stand er immer noch auf demselben Fleck.
Und die einzige Frau, die ihm Gesellschaft leistete, war seine Schwester Cleo.
Aus ihren finsteren Mienen schloss Michelle, dass sie sich strit ten oder zumindest Meinungsverschiede nheiten hatten. Cleo schwieg jedoch sogleich und ging wieder zu ihrem Partner zurück.
„Ihr hattet meinetwegen eine Auseinandersetzung, stimmt's?" fragte Michelle. „Deiner Schwester gefällt es nicht, dass wir zusammen sind, wie sie glaubt."
„Ja, so ungefähr könnte man es ausdrücken", antwortete Tyler angespannt.
Michelle runzelte die Stirn. „Sie hat mich nie gemocht. Warum eigentlich nicht? Vielleicht solltest du sie einweihen und ihr sagen, dass sich zwischen uns gar nichts abspielt, Tyler. Als Frau versteht sie sicher, dass es mir wichtig ist, meinen Stolz zu ret ten."
„Ich rede mit Cleo nicht über meine eigenen Angelegenheiten", fuhr er sie immer noch ärgerlich an. „Es geht sie nichts an, was du und ich miteinander haben."
„Aber sie ist doch deine Schwester, Tyler, und sie liebt dich. Das sehe sogar ich, obwohl ich keine Erfahrung habe, wie das so unter Geschwistern wirklich ist."
Er blickte sie erstaunt an. „Liebst du deine Brüder etwa nicht?"
Sie seufzte. Ihre beiden älteren Brüder lebten noch zu Hause bei ihrem verwitweten Vater. Sie bildeten ein Team und kamen ihr immer vor wie die drei Musketiere. Sie waren richtige Machos, Angeber und Aufschneider und waren glücklich, wenn sie ihr Bier und ihr Essen hatten. Frauen brauchten sie nur für Sex, deshalb legten sie keinen Wert auf Michelles Anwesenheit.
Ihr Vater hatte ihre Mutter wahrscheinlich nur geheiratet, weil sie schwanger gewesen war mit Bill, Michelles ältestem Bruder. Sie hatte nie erlebt, dass ihr Vater ihre Mutter liebevoll oder zärtlich behandelt hatte. Auch kein freundliches Wort hatte er für seine Frau übrig gehabt. Nachdem Michelles Mutter gestorben war, hatte ihr Vater seine frühere Lebensweise wieder aufgenommen. Auch während der Ehe hatte er die Gesellschaft von Männern vorgezogen, und ihre 45
beiden Brüder waren genauso.
Schließlich zuckte Michelle die Schultern. Sie wollte lieber nicht über ihre Familie reden. „Na ja, sie geben mir keine Chance. Sie wollen einfach nichts von mir wissen."
„Warum nicht?"
„Das ist eine lange Geschichte, Tyler. Ich erzähle sie dir später mal."
„Okay, ich werde dich daran erinnern", antwortete er so entschlossen, dass sie ihn verblüfft ansah. Irgendwie freute sie sich, dass er sich für sie und ihre Familie interessierte, denn Kevin hat te nie danach gefragt.
Verwandtschaft bedeutete ihm nichts.
Aber mir bedeutet sie etwas, auch wenn meine Gefühle nicht erwidert werden, überlegte Michelle. Vielleicht hatte sie deshalb so lange an Kevin festgehalten. Er war so etwas wie eine Ersatzfamilie gewesen.
Das erklärte möglicherweise auch, dass sie so empfänglich gewesen war für seine Komplimente und Schmeicheleien. Von ihrem Vater und ihren Brüdern hatte sie nie so net te Worte gehört.
„Du bist wirklich eine komplexe Persönlichkeit, stimmt's?" sagte Tyler nachdenklich.
Michelle lächelte wehmütig. „Im Gegensatz zu dir, meinst du wohl, oder?"
„Ich bin komplexer, als man zunächst glaubt. Doch das ist eine noch längere Geschichte." Er lächelte genauso wehmütig.
„Erzähl sie mir", forderte sie ihn auf.
„Später vielleicht. Jetzt sollten wir in den Speisesaal gehen und unsere Plätze suchen. Das festliche Dinner beginnt gleich."
Und dann war das Glück nicht unbedingt auf Michelles Seite, denn sie saßen am selben Tisch wie Tylers Schwester, und der junge Mann neben ihr war einer von denen, die versucht hatten, sie anzubaggern.
Sie hätte Tyler küssen können, als er den Platz mit ihr tauschte und sie neben seinem Tischnachbarn, einem älteren und weniger aufdringlichen Mann, sitzen ließ.
Dennoch kamen ihr die zwei Stunden viel zu lang und schwierig
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