Ein tüchtiges Mädchen
Silfverkranz durch, dann sind Sie über das ganze Zeug im Bilde.“
„Das werde ich tun.“
Gerd ging in ihr Büro zurück. Der Kopf tat ihr zum Zerspringen weh. Ach, wenn sie doch schlafen könnte, schlafen! Aber diese Nächte, seit das Schreckliche geschah, waren lang gewesen, schlaflos und erfüllt von bitteren und düsteren Gedanken.
Dieser schreckliche letzte Tag an Bord!
Erna, die ununterbrochen schwatzte, nichtsahnend und nur mit sich selbst beschäftigt, Helges verschlossenes bleiches Gesicht. Und dann der Augenblick, die Sekunden, als sie ihn allein traf. Dieses erstickte, heisere Flüstern:
„Gerd, ich schreibe dir. Das ist alles so wahnsinnig! Gerd, du weißt ja nicht…“
Sie hatte nichts erwidert, war nur in ihre Kabine gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Sie war nicht imstande zu antworten, sich in eine Diskussion einzulassen. Außerdem konnten sie jeden Augenblick unterbrochen werden. Nein, nein, Schluß mit allem, mit allem und jedem!
So schleppte sie sich durch die Tage und durch die schlaflosen Nächte. Manchmal nahm sie mitten in der Nacht ein Schlafmittel, um wenigstens für den Rest der Stunden noch etwas zu ruhen. Wenn sie dann am Morgen zerschlagen und müde erwachte, war sie Myrseth dankbar, erst um 10 Uhr ins Büro zu müssen.
Und im Büro hatte sie den kleinen Ärger mit schwierigen Kunden und dem kleinen Intelli-Genzchen. Es kam zu einem richtigen Krach, als Fräulein Genz eines Tages zwei Briefe in die falschen Umschläge gesteckt hatte, Briefe für einen Agenten in England und einen Kunden in Nordland.
Da explodierte Gerd. Sie hielt der Kleinen eine Standpauke und gebrauchte Worte, deren sie sich noch nie bedient hatte.
„Wenn so etwas noch einmal passiert, Fräulein Genz“, schloß sie, „dann sind Sie hier fertig. Wenn Sie nicht mal so eine einfache Arbeit fehlerlos ausführen können, dann sind Sie hier nicht zu gebrauchen. Begreifen Sie denn nicht, daß so ein Versehen katastrophal sein und große Geschäfte für uns verderben kann? Das ist eine letzte Warnung, Fräulein Genz. Kommt so etwas noch einmal vor, können Sie gehen.“
Gerd wußte, daß sie einen derartigen Schnitzer kräftig rügen mußte. Sie machte sich hart und tat nichts, um Intelli-Genzchen zu trösten. Die hatte sich auf die Toilette zurückgezogen und heulte derartig, daß man es bis auf den Gang hinaus hörte.
Sollte das Mädel nur heulen, das ließ sich nicht ändern. Daß Gerds Herz im Grunde vor Mitleid blutete, das brauchte Intelli-Genzchen nicht zu wissen.
Die Tage vergingen. Gerd wartete, wartete, wartete…
„Ich werde dir schreiben“, hatte Helge gesagt.
Und Gerd stürzte sich jeden Tag auf die Post. Da war ein Brief von Mutter, eine kurze Nachricht von Solveig, da war eine Karte mit einem kleinen persönlichen Gruß von Mr. Clement aus Newcastle.
Sonst nichts.
Eine große, tote Leere breitete sich in Gerd aus. Sie verrichtete ihre Arbeit automatisch; sie verrichtete sie fehlerfrei, aber ohne Freude. Sie empfand nicht mehr die Spannung und das persönliche Interesse, das sie zuvor für die Geschäfte der Firma gehabt hatte. Sie tat nur ihre Pflicht.
Fräulein Genz saß an ihrem Tisch im Büro. Sie schluckte und schluckte. Vor ihr lag die Morgenpost. Nun, da die Büroleiterin nicht vor zehn Uhr kam, war es ihr anvertraut worden, alle Briefe an die Firma zu öffnen und sie nach bestem Ermessen zwischen dem Direktor und dem Bürochef zu verteilen. Private Briefe wurden selbstverständlich nicht geöffnet, sondern gleich dem Empfänger überbracht.
Und jetzt saß sie mit diesem Brief vor sich da.
Zum zehntenmal sah sie auf den Umschlag, den sie aufgerissen hatte. Zum zehntenmal konstatierte sie die schreckliche Tatsache, die sie gleich hätte bemerken müssen, nämlich, daß der Brief zwar adressiert war an die Büroleiterin Gerd Elstö, außerdem aber noch ein deutliches „Persönlich“ in der einen Ecke trug.
Sie versuchte sich damit zu entschuldigen, daß die Adresse mit der Maschine geschrieben war, und solche maschinengeschriebenen Briefe pflegten erfahrungsgemäß Geschäftsbriefe zu sein. Der Inhalt jedoch war alles andere als geschäftsmäßig, denn er war handschriftlich, und selbst Fräulein Genz begriff, daß die Überschrift „Geliebte, geliebte kleine Gerd!“ sozusagen privat sein mußte.
Fräulein Genz hatte viele schwache Seiten, begabt war sie nicht, aber sie war doch ein anständiger Mensch. Nie wäre es ihr eingefallen, den Brief eines anderen
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