Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
fünfundfünfzig leeren Seiten meines Terminkalenders, lauerte hinter einem Löwen, um mir die Schnürsenkel zu binden, las die Bekanntmachungen vor der Kirche, wartete auf eine Lücke im Verkehr, um die Straße zu überqueren, wartete dann wieder, um zurückzukehren, und das Ganze, ohne den Museumsvorplatz aus den Augen zu lassen, und immer mit der roten Nelke in der Hand, manchmal innerhalb, manchmal außerhalb meiner Seitentasche, bis ich wieder an der Bushaltestelle stand oder, genauer, an einer Mauer, von wo aus ich den Galerieeingang im Blick hatte, wenn ich nicht gerade in den Himmel schaute, um mich zu vergewissern, daß es kein Fehler gewesen war, den Regenschirm zu Hause zu lassen. Schließlich eilte ich mit geschäftsmäßiger Miene die Treppe hoch und in die Galerie hinein, wie unterwegs zu einer Besprechung, für die ich etwas zu spät dran war, und kam wenige Augenblicke später ebenso forschen Schritts wieder heraus, als wäre ich bei der Besprechung gewesen, die sich aber als reine Zeitverschwendung erwiesen hatte. Ich war eben am Fuß der Treppe stehengeblieben, um mir die Krawatte zurechtzuziehen, als hinter mir eine Stimme sagte: »Entschuldigen Sie, aber sind Sie vielleicht Mr. Ripple?«
Ich machte ein ziemlich hohen Satz in die Luft und landete um 180 Grad gedreht, so daß ich nun eine Dame vor mir hatte mit einer Nelke in der Hand, die aussah wie im letzten Sommer frisch gepflückt, wenn es sich überhaupt um eine Blume handelte.
Sie sah ganz und gar nicht aus wie auf dem Foto, aber ich hatte sie schon irgendwo einmal gesehen. Sie war die einzige Person an der Bushaltestelle gewesen, die nicht den Kopf in Richtung Canada House gedreht hatte, um nach dem nächsten Bus Ausschau zu halten, und auch die Frau, die sich hinter mich stellte, um das Programm des mittäglichen Oboenkonzerts zu lesen, so daß wir zusammenstießen, als ich mich wieder umdrehte, um wieder einmal zur Galerie zu schauen, und unser jeweils erstes Wort an den anderen war: »Entschuldigung«, und mein erster Gedanke war: »Du blöde Kuh, hast du denn keine Augen im Kopf?« Sie erzählte mir, sie habe mich schon früher bemerkt, wie ich mich vor dem Konzertprogramm immer wieder umdrehte und die Lippen bewegte,
als würde ich es auswendig lernen, wie jemand, der nicht ganz richtig im Kopf ist oder ein eifersüchtiger Oboist, aber es sei das rote Leuchten an meiner Hüfte gewesen, während ich überallhin schaute, nur nicht in die aufgeschlagenen Seiten meines Terminkalenders, was bei ihr den Ausschlag gegeben hätte. Und als ihr dann die Blume vor die Füße fiel, kurz nachdem ich die Galerie verlassen hatte, habe es nicht nur daran gelegen, daß sie sie aufgehoben habe, bemerkte ich später.
»Oh!« sagte ich. »Meine Güte, sind wir uns denn nicht schon ... !« Und streckte ihr die Hand entgegen, in die sie die Nelke legte.
Sie nickte und schaute auf ihre Handtasche hinunter, die sie nun öffnete und wieder schloß. Dann schauten wir uns für eine wirklich sehr lange Zeit, fast drei Sekunden, direkt in die Augen, nur daß sie zehn Zentimeter größer war als ich, die Haare nicht mitgerechnet. Dann strich ich mir hier und dort übers Gesicht, und sie probierte noch einmal den Verschluß ihrer Handtasche.
»Würden Sie gern ... ?« setzte ich an und schaute an ihr vorbei zur Kirche, vor der sich bereits Leute versammelten. »Oder in den St. James’s Park. Oder sollen wir in die Galerie gehen, uns bildern?«
Sie drehte sich zur Kirche um. »Ich mag Oboenmusik eigentlich sehr gern, Sie nicht auch? Dann könnten wir ja ...«
»Aber natürlich. Hier stehenbleiben will ich auf keinen Fall. So frisch erkannt auf einem öffentlichen Platz.«
Und so verbrachten wir unsere erste gemeinsame Stunde in einem Mittagskonzert. Zweimal warf ich ihr einen schnellen Seitenblick zu, und sie lächelte zurück. Ich dachte mir: Gefällt ihr diese Musik so sehr wie mir nicht, macht sie so etwas oft, was sollen wir danach tun, was sollen wir danach reden, über die Musik, über irgend etwas, hat sie Hunger, glaubt sie, daß sie mich mag, was denke ich über sie, über irgend etwas, was zum Teufel soll das denn, mit einer völlig Fremden einem Oboenkonzert zu lauschen, usw ...? Eine ganze Batterie von Fragen, die aber zu schnell hintereinander kamen, um sich lange damit aufzuhalten, und danach die Erinnerung an ihren Brief und das Foto, und schließlich die
Frage, wie sie oder ich es wohl formulieren würde, wenn wir eigentlich sagen wollten:
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