Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
Artikel über Kambodscha brachte und einen anderen über die Integration von Geisteskranken in die normale Gesellschaft. Er, Jenners, hatte sehr dezidierte Meinungen zu beiden Themen, die er mit kleinen Bewegungen der Hände und Augenbrauen ausdrückte, um anzudeuten, wo der gesunde Menschenverstand die Grenzen zog ... einerseits, andererseits, das ist ja sehr schlimm, aber Sie dürfen nicht vergessen ... Schließlich sagte er: »Schauen Sie doch vorbei, wann immer Sie Lust haben, aber am besten rufen Sie mich vorher an.« Wie gesagt, er hatte absolut nichts Exklusives an sich, seine Zweifel waren allumfassend.
Was den Rest des Tages angeht, so gibt es mittags meistens eine Suppe mit irgendwelchen Resten darin und abends ein Fertiggericht mit Kartoffeln, nachmittags lese oder döse ich, am Abend dann Fernsehen oder ein bißchen was von diesem Schreibkram, bevor ich mit einem Glas Milch und einer halben Schlaftablette zu Bett gehe. Ich habe eine sehr saubere Handschrift, also sehe ich für mich keinen Vorteil in einer Schreibmaschine, deren Geklapper nur die Musik im Hintergrund übertönen würde, vorwiegend was Klassisches, damit ich wenigstens die Namen der Komponisten lerne. Bei einigen dauert das länger als bei anderen, bei Mussorgskij und Khatschaturian zum Beispiel. Ich glaube, das war das Hauptproblem, Maureen. In einem so kleinen Haus können Musik und Fernsehen unmöglich gleichzeitig funktionieren.
Nach unserem Ausflug nach Greenwich wartete ich zehn Tage lang darauf, daß sie mich anrief, und fragte mich, ob auch sie auf meinen Anruf wartete. Dieses Herumgerate ist die größte Plackerei der Liebe oder der Lieblosigkeit. Sie nahm schon nach dem ersten Klingeln ab.
»Ich hatte am nächsten Tag eine ganz furchtbare Erkältung. Ich hatte eine schreckliche Laune, nicht?«
»Absolut nicht.«
»Ich mußte die Chorprobe an diesem Abend ausfallen lassen.«
»Da mußte sich aber jemand was einfallen lassen.«
Sie lachte, und ich konnte ihre oberen Zähne samt dem Zahnfleisch darüber sehen. »Ja, der Chorleiter. Wir haben ja sowieso schon zu wenig Altistinnen. Und mehr Tenöre könnten wir auch gebrauchen.«
»Klingt ja fast nach einem Notstand.«
Diesmal war das Lachen kürzer, verständlicherweise. Ich meinte, im Hintergrund eine Stimme zu hören. Ich hoffte inständig, daß es nur eine Männerstimme aus dem Radio war. Aber es mußte auch noch jemand anders dasein, außer der Radiosprecher sagte ihr dauernd, sie solle aufhören zu telefonieren. Eine Weile plauderten wir recht entspannt, ohne daß einer von uns fragte: »Wann sehen wir uns wieder?« (Der einzige Rat, den mein Vater mir in bezug auf Mädchen gab, lautete: »Zeig dein Interesse nie zu offen.« Worauf meine Mutter sagte: »Was soll das denn heißen? Gib ihnen die Hand, und sie lesen dir gleich die Zukunft?« Manchmal konnte meine Mutter wirklich gut mit Worten umgehen. Auch meinem Vater gefiel das, und er wiederholte ihre Formulierungen oft mehrere Wochen lang, allerdings nie in ihrem Beisein.)
Schließlich sagte ich: »Ich sage Bescheid, wann ich mal wieder in der Stadt bin, und falls Sie Zeit haben für ein Mittag- oder ein Abendessen oder ...«
»Das wäre schön«, erwiderte sie, wobei ihre Stimme nicht gerade vor Aufregung zitterte.
Na ja, auch okay, meine Fahne wehte ja auch nicht ganz oben auf dem Mast.
Letztendlich war sie es, die die Initiative übernahm, indem sie mir einen Prospekt über eine Aufführung von Haydns Schöpfung schickte, auf dessen Rückseite sie geschrieben hatte: »Falls Sie Lust und Zeit haben mitzukommen. Gruß, Maureen.« Darunter war etwas, das sich unter dem Vergrößerungsglas nicht als sehr kleines X entpuppte, sondern als Schlampigkeit von seiten des Prospektdruckers. Das Konzert sollte in zwei Wochen stattfinden, deshalb rief ich sie sofort an und sagte ihr, ich müsse an diesem Tag sowieso in die Stadt und würde sehr gern mitgehen. Woraufhin sie mich auf einen Happen vor dem Konzert in ihre
Wohnung einlud, da die Kirche, in der es stattfinden sollte, nur ein paar Schritte entfernt sei. Also wirklich, das ging jetzt aber rasend schnell, nicht?
Ich versuchte in der Bücherei herauszufinden, wie lange Die Schöpfung dauerte. Soll heißen, wenn sie um halb acht anfing, wann sie vorbei wäre: zu spät für ein nachgelagertes Dessert, wenn man von der Regel ausgeht, daß man mit einem zu vollen Magen nicht singen soll? Ich probierte es an diesem Abend nach einer Mahlzeit aus Fischstäbchen mit
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