Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
Sarah kann ich Ihnen nichts erzählen«, sagte ich.
Sie setzte sich unvermittelt wieder auf. »Ich bin nicht blöd, egal, was du denkst. Ich wußte, daß sie tot war, als sie auf einmal nicht mehr kam. Du hast dich verändert, Harry. Hast was aus dir gemacht, was?« Sie fing an, heftig meine Hände zu schütteln, und ich spürte kalte Haut über Knochen gleiten. »Du mußt was aus dir machen, das habe ich dir doch gesagt. Und du mußt dir die Haare schneiden lassen. Ich bin nicht blind. Sie wollen, daß du ordentlich aussiehst.«
»Sarah. Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
»Ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, das Leben, das sie geführt hat, immer diese Eile. Diese Filmstars ... Sag nicht, ich hätte sie nicht gewarnt.«
»Möchten Sie sich die Fotos ansehen«, sagte ich und zog meine Hände weg. Ich blätterte langsam ein paar Seiten um, aber sie schien nichts wahrzunehmen.
»Die kleine Sarah«, murmelte sie. »Die arme, kleine Sarah. Du warst eifersüchtig auf sie, nicht, Lily?«
Ich schaute zu Maureen, die die Hand vor dem Mund hatte. Dann winkte sie mir und deutete zur Tür. Die Heimleiterin stand mit dem Rücken zu uns und ordnete irgend etwas im Schrank.
»Also, eins kann ich dir sagen«, fuhr Miss Phipps fort und
faßte wieder nach meinen Händen. »Ich bin noch nicht tot.« Ihre Stimme klang dünn in der schalen Luft. »Sie verlangen zu viel, Harry, für dieses Kämmerchen hier und die stinkenden Toiletten. Die Heimleiterin, die bildet sich vielleicht was ein. Feldwebel. So hast du mich immer genannt. Feldwebel. Sie tun mir an den Zähnen weh mit ihrem neumodischen Schnickschnack ...« Ihre Stimme wurde verwaschen, und ihr Griff erschlaffte. Plötzlich klatschte sie geräuschlos in die Hände. »Vom Essen kriege ich Durchfall. Wie soll ich da was für den Winter zulegen? Du solltest für das Essen nichts zahlen, Harry.«
»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, sagte ich.
Sie ließ die Hände auf das Album plumpsen. »Dieses gräßliche Zeug da kannst du wieder mitnehmen. Wir dürfen hier keine Sachen haben. Diesen alten Schrott, so nennen sie das hier. Morgen, Harry, kannst du mich zu Sarah in ihr wunderschönes Haus fahren. Heute geht’s mir nicht so gut. Ich bin froh, daß du Lily nicht mitgebracht hast.« Sie fing an, einen Rhythmus zu klopfen. »Silly Lily. Silly Lily.«
Das Album rutschte ihr vom Schoß, und ich fing es auf und legte es auf die Kommode. Die Heimleiterin ging zu ihr, zog ihr den Schal um die Schultern hoch und ließ die Hände dort ruhen.
»Schon wieder der alte Feldwebel«, sagte Miss Phipps. Ihr halb geöffneter Mund zuckte, und die Schultern bebten ein wenig, das war alles, was sie an Lachen noch zustande brachte. »Ich weiß genau, wer das ist, und Sie brauchen nicht so zu schreien, vielen Dank. Sind wieder hier, um Maß zu nehmen. Ich werde immer kleiner, bei dem Essen, das man hier bekommt.«
»Kann ich Ihnen irgendwas besorgen?«
Aber sie döste nun ein, und ich bezweifle, ob sie mich gehört hatte.
»Sie ist wieder weg«, sagte die Heimleiterin. »In ihren Träumen.«
Aber dann öffnete sie noch einmal die Augen, schaute uns beide an und dann seitlich zu Maureen, als würde sie uns alle zum ersten Mal sehen. Plötzlich lächelte sie. »Alle sind so nett, machen so ein
Aufheben um mich. Sie verwöhnen mich. Aber jetzt muß ich raus und nachsehen, was sie im Garten so treiben ...« Ihr Kopf kippte zur Seite, und sie spähte an mir vorbei zum Fenster. »Schaut euch das Sonnenlicht auf den Bäumen an. Die Blätter fallen bereits. Vielleicht werde ich alt. Komm, Sarah, du und ich ...«
Und sie schlief ein.
»Ich danke Ihnen beiden sehr, daß Sie gekommen sind«, sagte die Heimleiterin zum Abschied. »Sie haben ihr ein wenig frischen Zugriff aufs Leben gegeben, aber jetzt wird es wieder Fragen geben. Sie ärgert uns gern ein bißchen.«
»Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn wir irgendwas tun können«, sagte ich.
»Vielen Dank. Aber das wird nicht nötig sein. Ihre wenigen körperlichen Bedürfnisse können wir problemlos befriedigen, und andere hat sie ja kaum mehr.«
»Gab es da ... Ist Sarah irgend etwas passiert? Und ist Lily ...?«
»Lily ist, soweit ich weiß, in Kanada. Nicht einmal eine Weihnachtskarte. Sarah war ihr Liebling, wie Sie ja bemerkt haben. Ihr Bruder erzählte mir, sie sei ein bißchen zurückgeblieben gewesen. Sie lebte nicht lange. Die anderen waren in einem Internat. Die Familie behielt sie
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