Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
Straßen und in Innenhöfe. Die Bürgersteige waren voller Löcher, und die heruntergekommenen Gebäude wirkten nur vorübergehend bewohnt oder seit langem verlassen. Einige waren mit Einschußlöchern übersät. Es war, als würde man durch einen gottverlassenen Friedhof wandern. Hier und dort standen riesige, verrostete und verdreckte Müllcontainer wie gigantische Schulranzen auf Rädern, und der Inhalt quoll heraus, als hätten sie ihren Zweck überdauert und wären vergessen worden, außer von ein paar darin herumwühlenden alten Frauen. Die Graffiti waren vorwiegend auf englisch: PERSONAL Jesus, SLAYER, HOO-LIGAN, DEATH, PUNK NOT DEAD, SADDAM GLEMP, GAME OVER, VANILLA, FUCK EVERYONE, WELCOME TO HELL, SEX PISTOLS, EX-PLOITED und, das unheilvollste von allen, FCKW. Es war wie überbautes Ödland, das niemandem gehörte, mit Müll zugeschüttet, bröckelnd, starrend vor Dreck, verlassen. Und doch gab es hier und dort Leute, die den Bürgersteig fegten oder die Grasflächen zwischen den Bäumen harkten oder Blumenkästen an die Fenster stellten. Und es gab auch ein oder zwei Geschäfte mit neuen Schildern und leuchtenden Markisen, als würden langsam die ersten
tapferen Siedler ankommen und ihre Claims abstecken. Ach ja, und überall wurden Rassehunde Gassi geführt: afghanische Windhunde und deutsche Schäferhunde und Boxer und Collies und Dackel und Dobermannpinscher und sogar ein Rottweiler. Vielleicht, so schrieb ich in mein Notizbuch, sind nur in England die meisten Hunde Promenadenmischungen. Wir lieben sie so sehr, daß wir sie mit Freuden frei laufen lassen, damit sie sich nach Herzenslust und überall paaren können, was nicht das einzige ist, was sie nach Herzenslust überall tun. Auf der Hauptstraße verkaufte eine ungewöhnliche Menge von Läden und Ständen Blumen oder, genauer, bot sie an, und wieder fiel mir auf, wie elegant die Frauen gekleidet waren, aber sie hatten auch eine Verzweiflung an sich, als wüßten sie, daß diese Kolonisation in ihrem Leben kaum etwas verändern würde. Auch die eben sprießenden Bäume spielten ihre Rolle. Mir fiel ein, ich hatte irgendwo gelesen, daß das erste Geschäft, das nach dem Krieg in Warschau öffnete, ein Hutladen gewesen war. Das überraschte mich jetzt nicht mehr, die Tollkühnheit und Großmannsucht dieser Unternehmung.
Später am Nachmittag besuchte ich das Königsschloß, das in seiner ganzen goldenen Pracht in nur zehn kurzen Jahren wiederaufgebaut und restauriert worden war, und ich dachte mir, daß Leute, die dies schaffen, alles schaffen können. Doch zwischen Hoffnung und Verzweiflung, habe ich irgendwo gelesen, ist eine Kluft, so tief und breit wie die Zeit, und zwischen den beiden kann der Wille versagen, und Verkommenheit breitet sich dann aus wie Nebel, der nur die Monumente hinterläßt.
An diesem Abend besuchte ich ein Musical im Kulturpalast mit Laserlichtern, die durch die Gegend schossen, und phosphoreszierenden Figuren, die über die Bühne hüpften, und einem großen Ensemble exzessiv lebhafter junger Leute, die mich daran erinnerten, daß ich auch einmal jung gewesen war, aber nicht unbedingt so. Es fühlte sich an, als würden die Laserstrahlen direkt durch mich hindurchgehen wie bei neuesten medizinischen Experimenten, die bei anderen vielleicht besser funktionierten als bei mir. Ein schwarzer Amerikaner war der Star des Ensembles, vermutlich
importiert, um der Show etwas Authentisches zu geben. Man merkte, daß sie ihn gern hier hatten, und auch ihm gefiel es, weil er so etwas schon sehr oft getan hatte, die anderen es aber zum ersten Mal probierten. Und so ins Bett. Das Musical spielte in einer U-Bahn-Station in New York, und hin und wieder war ein dicker und zerlumpter alter Mann mit einem Koffer über die Bühne geschlurft, um unterwegs eine Orange aufzuheben. In meinem Traum war das meine Rolle, unbemerkt von den Jungs und Mädels, den Mädels vor allem, mit würdeloser Last beladen, wie der Dichter es nennt. Ich trug den Koffer überallhin, sein Gewicht krümmte mir den Rücken, unbeachtet stolperte ich in Schlaglöcher und suchte einen leeren Müllcontainer, in den ich ihn werfen konnte. Aber es war ein tiefer und erholsamer Schlaf. Das Telefon hatte nicht wieder geklingelt. Vielleicht hatten die Mädchen inzwischen das Gesicht usw. gesehen, das zu der Nummer gehörte. Als ich dann an einem strahlenden Apriltag erwachte, war es Annelise, die ich zurückließ, so steht’s zumindest in meinen Notizen, wirbelnd und
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