Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
der Verehrung, so mein Eindruck, ein natürlicher Teil des normalen Lebens, eigentlich überhaupt nicht wie ein Kirchgang. Die Wände waren bedeckt mit kleinen Schildern und Tafeln und Halsketten und allen möglichen Andenken, auch Krücken und dergleichen, alles, um Zeugnis abzulegen.
Millionen waren glücklicher gemacht worden, indem sie an diesen Ort kamen, die Madonna aus gewisser Entfernung betrachteten, das Glitzern von Gold und Silber um ein kleines, trauriges Gesicht mit zwei Narben auf der rechten Wange, die Tränen hätten sein können. Oder nicht einfach traurig, sondern gezeichnet von einem geduldigen, matten Zorn, der ihnen ihre endlose Bedürftigkeit zurückgab. Im Reiseführer, der jetzt beim Schreiben aufgeschlagen vor mir liegt, kann ich nicht erkennen, was für einen Gesichtsausdruck das Jesuskind hat, da sein Gesicht beinahe pechschwarz ist. Die Leute schlurften hin und her und kamen und gingen mit einer schlichten, alltäglichen Ernsthaftigkeit, manchmal leise in den Gesang des Priesters einstimmend, als hätten sie nichts Besseres zu tun, sondern wollten nur hin und wieder die eigene Mitte wiederfinden. Was immer es war, sie waren drinnen, und es war in ihnen. Und ich war dort als Tourist, als Voyeur, und jetzt will ich nicht länger versuchen, darüber zu schreiben. Der
Vikar hätte dabeisein müssen. Was immer ihm fehlte, ich glaube, dort hätte er es gefunden.
Über Krakau können Sie nachlesen. Die Stadt des Papstes. Sehr alt und wunderschön und abgenutzt und würdevoll. Es gab viel zu sehen: Das Wawel-Schloß, den alten Stadt- und Marktplatz, die Kirche zur Heiligen Maria mit ihrem riesigen, ausladenden Altarbild, der gestirnten Decke und dem staubigen Glanz, die beide den Dämmer hier und dort erhellten wie das Licht eines nebligen Herbstabends. Betende auf Knien und Beichtende waren zu sehen inmitten all der Touristen, und ich war einer von ihnen, neugierig, hier wegen des Erlebnisses. Was hatte ich hier zu schaffen in ihrem Haus, im Haus Gottes? Dann fuhr ich hinaus nach Nowa Huta, wo es eine andere Stadt gab aus riesigen, häßlichen Wohnblocks und Stahlfabriken, die Dreck in die Luft bliesen, der mit dem Regen wieder heruntergekommen und in alles hineingesickert zu sein schien. Es war ein feuchter, drückender Tag, und der Gestank war überall. Es heißt, diese andere Stadt war aus reiner, gigantischer Gehässigkeit und überbordendem Neid dicht neben der alten erbaut worden, um einen Schatten auf die Vergangenheit und ihr gedemütigtes Kaleidoskop der Herrlichkeiten zu werfen. Ich weiß es nicht. Aber ich erinnerte mich an ein Kirchenlied aus meiner Schulzeit, und plötzlich begriff ich die Bedeutung der »dunkel satanischen Hütten«. Kein Wunder, daß man hier ebenfalls Kirchen bauen wollte und die Behörden das zu verhindern suchten. Ich versuchte mir einzureden, daß der menschliche Geist nicht auf ewig unterdrückt werden kann, aber wie lebt man durch das Leben anderer? Ich wollte beschreiben, was ich damals fühlte, habe jedoch jetzt, Wochen später, nichts mehr als dürre Erinnerungsfragmente, die sich am Rand meiner Vorstellungskraft herumdrücken, aber nicht ins Zentrum kommen, nur Bilder, die nicht verändern, was ich denke und was ich bin, so daß ich in Wahrheit von ihnen unbeeinflußt bin und einfach so weitermache wie bisher in diesem Buch meines kümmerlichen und bedeutungslosen Lebens. Ich wurde weder gestärkt noch bereichert. Ich habe jetzt Wissen, das ich vorher nicht hatte, aber ich kann nichts
damit anfangen, außer es niederzuschreiben. Man kann es nicht einmal Begreifen nennen.
Danach fuhr ich nach Auschwitz, dem schlimmsten Ort der Welt, wie jemand es genannt hat. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich darüber sagen könnte. Oder ob ich es überhaupt versuchen sollte. Was könnte ich noch hinzufügen? Vielleicht muß das denen überlassen bleiben, denen es widerfahren ist, den Zeugen, wir anderen können nur zuschauen und zuhören.
Bei meiner Rückkehr nach Warschau wartete im Hotel die Nachricht von Mrs. Wysinski auf mich, daß ich sie zurückrufen solle. Sie sagte mir, daß Mrs. Bradecki und Mrs. Konopka am nächsten Tag nach Treblinka fahren wollten, und ich bot, zu schnell, an, sie dorthin zu fahren. Aber dann sagte sie mir, daß Maria zurück sei und ebenfalls mitkommen wolle, und deshalb war es überhaupt nicht zu schnell. Da ich an diesem Nachmittag nichts anderes zu tun hatte, fuhr ich in eine südliche Vorstadt und schlenderte über
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