Ein unauffälliger Mann - Chadwick, C: Ein unauffälliger Mann - It's All Right Now
Schwester nichts davon.«
»Ich erzähle der doch nichts, Dummkopf.«
»Was sonst noch?«
»Nichts mehr«, zischte er. »Erzähl’s nur Mum nicht, das ist alles.«
»Na gut, ich tu’s nicht. Hör zu, wir unterhalten uns später in aller Ruhe darüber. Was meinst du?«
»Okay. Ich glaube, er hat Schiß, Dad. Ich bin davongelaufen. Ich habe ihn ein dreckiges Schwein genannt.«
»Na ja, Schiß sollte er auch besser haben.«
Der Satz sieht geschrieben ziemlich drohend aus, aber drohend hatte ich gar nicht geklungen, so sehr knirschte ich mit den Zähnen, ballte die Faust und schlug gegen die Kühlschranktür. Dann wurde mein ganzer Körper kalt und schlaff, und in meinem Nacken breitete sich ein Schmerz aus. Ich ließ ihn einfach an der Spüle stehen, wo er nun anfing, die Kartoffeln zu schälen.
In den folgenden gut zehn Minuten traf ich zwei Entscheidungen. Daß mein Sohn nie wieder zu Webb gehen würde und daß Webb sich von mir aus für den Rest seines miesen Lebens vor Schiß in Hose machen konnte. Alles andere, was ich dachte, konnte nicht als entscheidend interpretiert werden. Außer daß meine Frau es nie erfahren würde. Sie könnte auf mehrere Arten reagieren: direkt zur Polizei gehen, zu Webb gehen und ihm eins aufs Dach geben, ihm eine Adresse geben, wo seine Krankheit behandelt werden kann, sich in aller Ruhe mit Mrs. Webb unterhalten. Ich wußte es einfach nicht. Eins wußte ich allerdings ganz genau: Sie würde sich stundenlang mit Adrian hinsetzen und ihn ausfragen, was denn nun genau passiert sei und was in Hinsicht auf Gespräche und frühere Körperkontakte dazu geführt habe. Adrian wäre einer permanenten Beobachtung unterworfen, man würde nach Anzeichen für eine dauerhafte Schädigung forschen, und es gäbe kein Ende der Diskussionen über das Thema, wenn sie mit mir allein wäre, vor allem im Bett. Und Virginia könnte dann unmöglich außen vor gehalten werden, nein, sie wäre geradezu prädestiniert für eine Einbeziehung in die Lehren, die daraus zu ziehen seien, und der verdammte, ganze, endlose Rest. Das Problem Webb würde sich ausbreiten wie eine Seuche.
Und ich würde nur daliegen oder – sitzen, meine Daumen anschauen und ihnen befehlen, sich nicht umeinanderzudrehen, und mir überlegen, inwieweit das auch mein Problem war. Schon
manchmal habe ich mir vorgestellt, ich sei Privatlehrer für Musik oder Erste Hilfe zum Beispiel, der junge Menschen, nicht sehr viel älter als mein Sohn, unterrichtet (natürlich vom anderen Geschlecht usw.) und sich eine ganz ähnliche Situation ausmalt, sich jedoch nie dem Risiko aussetzen würde, ein dreckiges Schwein genannt zu werden. Meine Frau würde quasseln und quasseln, bis es so aussähe, als wären all ihr Mitleid und all ihre Geringschätzung auf mich gerichtet. Und dies alles führte mich zu der nächsten Schlußfolgerung, daß, egal, was ich sagte/täte, nicht sagte/nicht täte, meine Frau so ziemlich das genaue Gegenteil gesagt/getan hätte oder überhaupt nicht und daß ich mich letztendlich dann nicht mit Webb herumschlagen müßte, sondern mit mir selber.
Unterdessen wartete Adrian in der Küche, wo er inzwischen, wie ich hoffte, die Kartoffeln geschält und vielleicht sogar aufgesetzt hatte.
Eine Taube verscheuchend, schlich ich mich zum Fenster und schaute nach, ob Webb irgendwo in der Nähe war. Aber nur Mrs. Webb war zu sehen, sie war gerade mit ihrem Abfall beschäftigt. Ihr Fenster stand offen, und ich hörte sie singen. Ich hätte mir nie gedacht, daß sie singen oder überhaupt Freude am Leben ausdrücken könnte. Ich hatte sie mir noch nie richtig angesehen, hatte meistens nur gewinkt und war weitergegangen. Sie hatte eine knabenhafte Figur mit schmalen Hüften und breiten Kniescheiben und einem kaum nennenswerten Busen. Ihre Haare waren kurz geschnitten wie die meiner Frau, und sie hatte ein vorstehendes Kinn und große Hände. Ihre Beine waren behaart, viel mehr als die meiner Frau, und ich stellte sie mir mit einem Rasierer in der Hand vor, wie sie sich damit vom Kehlkopf bis zur Oberlippe übers Kinn fuhr. Ich spürte, daß ich angewidert das Gesicht verzog. Ich konnte sie beinahe riechen. Ihr hageres, blasses Gesicht wurde noch häßlicher durch ihren Gesang, denn sie sang sehr schön.
Als sie sich bückte, um den restlichen Abfall in den Eimer zu wischen, sah ich Webbs Gesicht, vom Fenster ihrer Erdgeschoßtoilette aus beobachtete er mich, wie ich seine Frau beobachtete. Und in diesem Augenblick empfand
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