Ein unbeschreibliches Gefuehl
Beziehungen wechseln die Rollen: Mal ist der eine stärker, mal der andere. Mal umsorgt dieser jenen, mal umgekehrt. Doch jeder könnte, auch wenn es sehr schmerzlich wäre, ohne den anderen existieren. Aber gemeinsam ist es schöner, reicher, und zusammen, in der Begegnung, entwickelt man sich weiter.
Ein zweiter Gedanke von Schelling lässt sich in unseren Erfahrungen wiederfinden: der von der Polarität. Schelling sah sie in der zweigeteilten Einheit des Ungrundes angelegt und fand sie in der Natur und im Menschen wieder. Die Anziehung in der Liebe beruht eben darauf, dass sie zwischen zwei voneinander Verschiedenen wirkt. Der Volksmund kennt ja die Sprichwörter »Gleich und gleich gesellt sich gern« und »Gegensätze ziehen sich an«. Immer wieder wird darüber gestritten, welcher Spruch denn nun richtiger sei, und die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte. Zwei Menschen, die weder Vorlieben noch Werte oder Ziele miteinander teilen, haben sich auf Dauer nichts zu sagen. Aber wenn sie einander zu ähnlich sind, dann wird es auch schwierig, weil die Neugier auf den anderen keine Nahrung bekommt. Weil die Energie fehlt.
Gerade heute, da die Geschlechterrollen in Bewegung geraten sind, ist das ein Thema. Da stehen die Männer, die den traditionellen Machismo abgelegt haben, plötzlich verwundert vor den Frauen, die eben noch genau dieses gefordert hatten und nun über fehlende Männlichkeit des zu »soften« Partners klagen. Neue männliche Rollenentwürfe sind gefragt, jenseits von Machos und Softies. Umgekehrt sollten Frauen sich – um nur ein Beispiel für weibliche Rollenklischees zu nennen – von dem immer noch liebevoll gepflegten Selbstbild verabschieden, dass allein sie die Kompetenz in Sachen Gefühl besäßen, während die männliche Psyche hier quasi Entwicklungshilfe benötige. Polarität bedeutet ja eben nicht, das andere für minderwertig zu erklären, sondern als Bereicherung des Eigenen anzunehmen. Nur so kann aus der Begegnung zweier Verschiedener etwas Drittes, Neues entstehen – in Schellings Worten: »Leben, Liebe und persönliche Existenz«.
Sich im anderen wiederfinden
D ass aus der Begegnung zweier Gegensätze etwas Drittes, beide Seiten Versöhnendes entsteht, dieses Modell haben wir soeben bei Schelling kennengelernt. Am grandiosesten hat es bei einem Studienfreund von Schelling Gestalt gewonnen: bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Er und der fünf Jahre jüngere Schelling studierten gemeinsam mit Friedrich Hölderlin evangelische Theologie im Tübinger Stift und teilten sich dort ein Zimmer. Alle drei schwärmten für Kant und für die Französische Revolution. Noch als älterer Mann soll Hegel alljährlich am 14. Juli ganz für sich allein eine Flasche Rotwein geleert haben.
Von den Freunden war Hegel der ernsteste und, im Umgang mit Frauen, auch der schüchternste. Scherzhaft wurde er deshalb »der alte Mann« genannt. Ein Kommilitone schrieb ihm einmal ins Stammbuch: »Gott stehe dem alten Mann bei.« Hegels Äußeres mag dazu beigetragen haben: Die Blattern hatten sein Gesicht narbig werden lassen. Außerdem sprach er breitestes Schwäbisch. Hegels Schüler und erster Biograph Karl Rosenkranz berichtet von Tischgesprächen mit Hegel: »Sein Organ war ihm nicht günstig zur Rede; der Ausdruck weder leicht noch elegant; der schwäbische Dialekt war ihm geblieben; er begleitete stets die Rede mit Bewegung der Arme und Hände. Hatte man sich indessen mit diesen Äußerlichkeiten versöhnt, so war der Refrain dessen, was man durchhörte, doch gewöhnlich so gehaltvoll, sinnig oder auch so schlagend witzig, dass man an der Form nichts auszusetzen fand.«
In Berlin, wo Hegel schließlich mit 46 Jahren eine Professur erhielt, war er denn auch als Dozent äußerst beliebt. In seinen Vorlesungen saßen nicht nur Studenten, sondern auch Militärs und Beamte. Und die Damenwelt der preußischen Hauptstadt liebte den entzückten Denker, wie Rosenkranz berichtet: »Außerordentlich gefiel sich Hegel in der Gesellschaft der Berliner Frauen, so wie sie umgekehrt den guten und scherzreichen Professor bald mit Vorliebe hegten und pflegten.«
Auch das Eheglück war »dem alten Mann« noch zuteilgeworden. Als 41-Jähriger, während seiner Zeit als Gymnasialdirektor in Nürnberg, hatte er die Patriziertochter Maria von Tucher geheiratet. Als er sie bei einer Abendgesellschaft stolz präsentierte, soll zwar ein Italiener, der sich unter den Gästen befand, »bruttina« geflüstert haben, was
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