Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
laufen, sie würde ihnen allen beweisen, dass sie nicht feige war.
«Vorsichtig, Fräulein Löwenström», warnte Johan, nachdem er ihr die Stiefel geschnürt hatte. «Wenn Sie mir ein paar Minuten geben, bin ich gleich bei Ihnen.»
Er eilte davon, und Sofia stand entschlossen auf. Hochkonzentriert ging sie zum Eis hinab, wie sie es vorhin bei Bea beobachtet hatte, und es klappte ganz ausgezeichnet. Hunderte von Tanzstunden mussten sich doch wohl auszahlen. In ihrem neuen Korsett steckten außerdem acht Zentimeter breite und fünfundvierzig Zentimeter lange Metallplatten. Dieses monströse Ding gab immerhin einen gewissen Halt, dachte sie und streckte den Rücken. Einen Fuß nach dem anderen setzte sie aufs Eis und machte dann ein paar wacklige Schritte auf ihre Cousine zu, die weiter draußen auf sie wartete.
«Warte, Sofia, ich helfe dir», rief Beatrice und fuhr ihr entgegen.
«Ich brauche keine Hilfe», erwiderte Sofia stolz. Noch ein kleines Schrittchen – ha! –, das ging ja ganz hervorragend. Doch dann bekam sie zu spüren, dass ihre Bewegungen ungeübt und ungeschickt waren, sie geriet ins Schwanken und ruderte mit den Armen. Hinter sich hörte sie einen Ruf vom Ufer, vor sich sah sie Beas ungläubigen Blick. Erschrocken riss sie die Augen auf, schrie auf – und stieß dann mit ihrer Cousine zusammen, die nicht mehr rechtzeitig hatte ausweichen können. Mit einem kräftigen Rums stürzten beide aufs Eis. Bea hat den schlimmsten Stoß abgefangen, dachte Sofia schuldbewusst, doch dann brach sie in Gelächter aus. So etwas Tollkühnes hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gemacht.
Johan war sofort bei ihnen, beugte sich besorgt zu Sofia hinunter und reichte ihr die Hand. «Sind Sie verletzt?»
Zum ersten Mal sah Sofia Johan direkt in die Augen, und ein euphorisches Gefühl durchzuckte sie. Sie ergriff seine Hand und wandte sich ihrer Cousine zu, die immer noch unter ihr auf dem Eis lag. «Ich bin dir wirklich dankbar, liebe Bea», sagte sie. «Dass du mich zum Schlittschuhlaufen mitgenommen hast, war eine gute Idee. Aber erinnere mich nächstes Mal daran, dass ich zuerst das Anhalten üben muss.»
Beatrice quietschte vor Lachen, und Sofia musste selbst so lachen, dass sich ihr Griff um Johans Hand lockerte und sie erneut auf ihrer Cousine landete. Es dauerte eine ganze Weile, bis Johan ihr auf die Füße geholfen hatte. Sie ordnete ihre Kleidung und versuchte, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, während sie sich gleichzeitig an Johans Rockärmel festklammerte. «Lassen Sie mich bloß nicht los», kicherte sie. Das kleine Abenteuer erheiterte sie so sehr, dass sie darüber ihre Schüchternheit ganz vergaß.
Johan fing ihren Blick auf und legte seine Hand auf die ihre. «Niemals», erwiderte er feierlich.
Beatrice wollte das verliebte Pärchen ungern stören, vor allem nicht jetzt, wo Sofia sich endlich einmal überwinden konnte, den Mund aufzumachen. Doch mit den frischgeschliffenen Kufen, den langen Röcken und dem festgeschnürten Korsett war es so gut wie unmöglich, sich aus eigener Kraft wieder hochzurappeln. Als daher neuerlich Schlittschuhe neben ihr bremsten und sie eine Hand sah, die ihr entgegengestreckt wurde, griff sie dankbar danach. Die Sonne blendete sie so stark, dass sie fast nichts erkennen konnte, aber sie spürte, wie sich starke Finger um ihre Hand schlossen. Der Mann zog sie mit spielerischer Leichtigkeit hoch und schwankte dabei nicht einmal. Beatrice beschattete ihre Augen mit einer Hand.
«Guten Tag, Fräulein Beatrice», begrüßte sie Seth Hammerstaal. Trotz der Kälte trug er keinen Hut, und die satte dunkle Farbe seines kurzen Haares erinnerte sie an Kastanien. Rasch zog sie ihre Hand zurück, klopfte sich den Schnee vom Mantel und versuchte, ihren Atem, ihr Herzklopfen und ihre Gesichtszüge wieder zu beruhigen.
Wie schön, sie wiederzusehen, dachte Seth. Beim Zusammenstoß mit der Cousine – den er aus der Ferne beobachtet hatte – und dem nachfolgenden Tumult war ihr die Kapuze vom Kopf geglitten. Ihre Wangen waren hellrot von der Winterkälte, und die Sonne ließ ihr Haar leuchten wie Ahornlaub im Herbst. «Was für ein Glück, dass ich gerade vorbeigekommen bin, um Sie zu retten, nicht wahr?», sagte er lachend.
«Ich hoffe wirklich, dass ich bei Ihnen nicht den Eindruck einer Frau hinterlassen habe, die gerettet werden muss», erwiderte Beatrice und trat einen Schritt zurück, wobei sie jedoch prompt wieder ins Straucheln geriet.
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