Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Mund, und diesmal begriff Beatrice, was er von ihr wollte. Als er sich zurückzog, folgte sie ihm vorsichtig und begann mit ihrer eigenen Zungenspitze die Innenseite seines Mundes zu erforschen. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren rutschte Seth auf dem Eis aus. Doch er fing sich. «Um Gottes willen», sagte er heiser, während sich tief in seinem Inneren die unerwünschte Stimme seines Gewissens rührte. Sie war noch so jung, ein unerfahrenes Mädchen. Und da er diese Sache angefangen hatte, lag es auch in seiner Verantwortung, sie zu beenden. «Wir können nicht weitermachen», sagte er, wobei seine Stimme vor Begehren bebte. Wenn jemand sie so sähe, würde ein handfester Skandal über Beatrice hereinbrechen, und sosehr er sich auch von ihr angezogen fühlte, er würde niemals den Ruf einer jungen Frau zerstören, nur um sich ein bisschen zu vergnügen.
Beatrices Lider flatterten. «Keine Sorge», sagte sie. «Keiner hat uns gesehen.» Doch sie wich seinem Blick aus, und Seth erkannte, wie sie mit ihren Gefühlen kämpfte. Schließlich strich sie sich die Haare und den Mantel glatt, ohne ihn noch einmal anzusehen.
«Kommen Sie, wir fahren zurück», schlug er vor. «Johan hatte da etwas von Essen erwähnt, und Sie möchten vielleicht auch ein wenig die Füße ausruhen.» Wortlos wandte sie sich um und nahm Kurs aufs Ufer. Er folgte ihr und hatte sie gleich wieder eingeholt.
Schweigend kamen sie am Ufer an.
«Ich helfe Ihnen mit den Schlittschuhen», erbot er sich.
«Nein, danke», antwortete sie kurz angebunden und ging an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Seth musste ein Lächeln unterdrücken.
Wie hatte sie ihm das nur erlauben können? Beatrice trat mit den Schlittschuhen in den Schnee und wäre beinahe gestürzt. Sie war wohl noch keine unmoralische Frau, nur weil sie seine Küsse genossen hatte, aber das schlechte Gewissen setzte ihr nun doch zu. Hätte sie wirklich solche Freude daran haben dürfen? Und hatte er gemerkt, dass sie noch mehr wollte? Seth Hammerstaal – der jetzt pfeifend hinter ihr herging – musste sie ja für das leichtfertigste Frauenzimmer der Welt halten.
«Hallo, ihr zwei», rief Johan ihnen entgegen. Wenn er dachte, dass sie zu lange fort gewesen waren oder dass sie sich unpassend benommen hatte, dann zeigte er es zumindest nicht. Doch Beatrice war trotzdem ganz elend zumute. «Ich hoffe, ihr habt Hunger, Mama hat nämlich Riesenmengen von Essen auftragen lassen, wie immer», verkündete Johan fröhlich. «Wenn ihr die Schlittschuhe ausgezogen habt, erwartet euch auch schon Fräulein Sofia dort oben.»
Seth ging mit einem letzten Pfiff an ihr vorbei, und Beatrice ließ sich auf eine Bank am Ufer sinken, ohne ihm nachzusehen. Sie begann, sich die Schlittschuhe aufzuschnüren, doch ihre Finger waren so steif, dass sie die kalten Lederschnüre nicht richtig fassen konnte. Zögernd sah sie sich nach Hilfe um, aber da Johan wieder zu Sofia gegangen war, war nur noch Seth in der Nähe, und den wollte sie ganz sicher nicht bitten. Entschlossen ließ sie die Schlittschuhe an.
«Kommen Sie, lassen Sie mich helfen, Ihre Hände sind doch eiskalt.» Seth war wieder neben ihr aufgetaucht, und sie fragte sich, ob es normal sein konnte, dass ein so großer Mann sich so bewegte, so schnell und lautlos. Ohne ihre Antwort abzuwarten, kniete er vor ihr nieder und begann, die Lederriemen aufzuknoten. Selbstverständlich. Er war kein Mann, der auf Erlaubnis wartete, er tat einfach, was er wollte.
«Das ist wirklich nicht notwendig», murmelte sie, doch im Grunde fand sie es schön, dass ihr jemand half. Es war lange her, dass sie Schlittschuh gelaufen war, und ihre Füße schmerzten tatsächlich.
«Sie sind ja ganz durchgefroren», stellte er bekümmert fest und massierte ihr den Fuß.
«Danke, das reicht jetzt», flüsterte sie.
«Ach nein, sieh mal an, wen wir hier haben!»
Bei dieser zwitschernden Begrüßung sahen Seth und Beatrice auf und erblickten Leonite von Wöhler, die ihnen über den Schnee entgegengetrippelt kam. Beatrice zog blitzartig ihren Fuß aus Seths Händen, während Seth selbst aufstand und sich verbeugte.
«Ich hatte schon gehört, dass Sie auch hier sind, aber ich konnte Sie nirgends entdecken», sagte Leonite, ohne Beatrices Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Mit ihrer schwarzen Pelzjacke und dem kleinen federbesetzten Hut auf den glänzenden Locken sah sie aus, als wäre sie gerade einem Modemagazin entstiegen.
«Komm schon, Hammerstaal,
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