Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
Seth?», mischte sich Jacques ein und schoss einen warnenden Blick auf Seth ab. Der konnte sich gerade noch zusammenreißen, als ihm klar wurde, dass Alexandre von Lily gesprochen hatte und nicht von Beatrice. Steif nickte er dem Mann zu, dem das enervierende Lächeln offenbar nie verging.
«Vivienne hat mir erzählt, dass Sie mit Jacques im Krieg waren. Ich war erst zehn, als der Krieg ausbrach, aber ich habe mehrere ältere Verwandte, die daran teilgenommen haben. Sie waren Cuirassier , nicht wahr?»
Alexandre kann nichts dafür, dass ich mir wie ein Fossil vorkomme, dachte Seth und massierte sich den Nacken. Da machte sich das nächste strahlende Lächeln auf Alexandres Gesicht breit, und Seth wusste genau, was passiert war. Sie war gekommen. Er spürte Beatrices Anwesenheit im Raum mit jeder Faser seines Körpers, und er wagte es nicht, sich umzudrehen. Stattdessen blieb er stehen, ließ die Hand im Nacken liegen und fürchtete sich vor seiner eigenen Reaktion. Und als er sich schließlich doch umwandte, war die Wirkung geradezu elektrisch. Sie hatte irgendetwas mit ihren Haaren gemacht, sie schwangen frei und fingen dabei jeden letzten Strahl der Abendsonne auf. Ihr Kleid saß ihr – sofern überhaupt möglich – noch enger am Leib als das vom Vorabend, es grenzte an ein Wunder, dass sie sich überhaupt darin bewegen konnte. Der dünne zitronengelbe Stoff von Rock und Ärmeln flatterte bei jedem ihrer Schritte. Sie lächelte wieder ihr breites, strahlendes Lächeln, ein Lächeln, das ausschließlich dazu gut zu sein schien, ihn durch die Hölle zu schicken. Er stellte das Denken ein.
Alexandre trat zu ihr, und Beatrice ergriff seine ausgestreckten Hände und ließ sich von ihm auf die Wange küssen. Seth versuchte, den Blick von dem Paar loszureißen, doch es wollte ihm nicht gelingen.
«Ach, sie sind so wundervoll zusammen», seufzte Vivienne neben Seth.
Er hatte die Französin gar nicht kommen sehen. Andererseits – in diesem Moment hätte er auch keinen beleuchteten Zug kommen sehen, verdammt. Sie blinzelte ihn unschuldig an.
«Geht es Ihnen besser?», fragte Seth höflich. «Jacques hat mir erzählt, Sie hätten sich erkältet», fuhr er fort, während er gleichzeitig gegen den Impuls ankämpfte, zu Alexandre hinüberzugehen und ihn mit einem kräftigen Schlag zu Boden zu strecken.
«Ja, danke», antwortete Vivienne. «Es braucht schon mehr als eine kleine Erkältung, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber natürlich sind nicht alle so robust wie ich.» Ruhig sah sie ihn über ihren flatternden Fächer hinweg an.
«Was soll das heißen?», fragte er. Vivienne hatte schon immer ein untrügliches Gespür dafür gehabt, wie sie sich am besten in Dinge einmischte, die sie nichts angingen.
«Alexandre tut Beatrice sehr gut», stellte Vivienne fest und deutete mit einem Nicken auf die beiden. «Und sie hat genug mitgemacht.»
«Ist es wirklich so anstrengend für eine junge Frau, Witwe eines Grafen zu sein und sich jetzt von einem Prinzen hofieren zu lassen?», fragte er gereizt, obwohl er wusste, dass er besser den Mund halten sollte.
Vivienne schenkte ihm einen verächtlichen Blick. «Ersparen Sie mir bitte Ihre Kommentare. Sie haben keine Ahnung, was diese Frau mitgemacht hat. Hören Sie auf meinen Rat und passen Sie auf, dass Sie nichts anfangen, was Sie nicht auch zu Ende bringen wollen.»
Seth sah zu Beatrice hinüber. Sie wirkte nicht so, als hätte sie seit ihrer letzten Begegnung nennenswert gelitten, im Gegenteil, sie sprühte vor Leben und Energie. Trotzdem war an Viviennes warnenden Worten etwas, was ihn unangenehm berührte. Auch Jacques hatte davon gesprochen, dass es Beatrice übel ergangen war, fiel ihm ein. Außerdem hatte Vivienne recht, hier konnte er nichts zu Ende bringen. Mit einem Blick auf die Uhr beschloss er, so bald wie möglich zu Lily und Daniel hinaufzugehen. Er sah Beatrice lachen. Für ihn war hier nichts mehr zu holen.
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36
«Guten Morgen, Lady Tremaine», sagte Prinz Alexandre, als er die Terrasse betrat, wo Lily gerade stand und auf den Schlosspark blickte.
Es war noch früh am Morgen, doch Lily hatte unbedingt hinausgehen wollen, nachdem sie fast den gesamten Vortag im Haus zugebracht hatte. Außerdem war der Park einfach wunderschön. Am Waldrand hatte sie eine kleine Gruppe grasender Rehe entdeckt, und vor der Terrasse blühten die Rosen in duftenden Wolken.
«Guten Morgen, Monsieur D’Aubigny», antwortete sie. «So ein
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