Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
wohl geschehen würde. Doch Seth eskortierte sie bloß wortlos zurück an ihren Platz. Sie hatten keine Silbe miteinander gesprochen. Trotz allem, was zwischen ihnen in der Luft lag, hatten sie schweigend getanzt und mit keinem Wort die Vergangenheit erwähnt. Seth verließ sie mit einem kurzen Nicken, und den Rest des Abends hielt er sich von ihr fern.
Es quälte Beatrice, wie offensichtlich er ihre Blicke und ihre Gesellschaft mied. Sie war völlig überwältigt. Vorhin war er gewesen wie früher, war er so sehr Seth gewesen, dass es wehtat, und sie glaubte auch, etwas in seinen Augen gesehen zu haben. Doch jetzt war er nur noch ein kühler, distanzierter Fremder, Lily an seinem Arm. Wie machte er das? Sie hätte am liebsten geweint und geschrien und mit dem Fuß aufgestampft, so ungerecht fand sie das. Trotzig hob sie das Kinn und reckte sich zu ihrer vollen Größe. Sie war keine naive Unschuld mehr. Sie war zivilisiert, und zivilisierte Menschen brachen nicht zusammen. Sie lächelten und betrieben Konversation, auch wenn ihnen immer und immer wieder das Herz brach.
Am Abend stand Seth an seinem offenen Fenster und rauchte, während er in der Ferne die Blitze über der Küste aufleuchten sah. Obwohl das Gewitter bis jetzt hartnäckig über dem Meer hing, wurde die Luft um Château Morgaine immer schwerer. Insekten und Vögel flogen unruhig durch die aufgeladene Atmosphäre, und die Tiere auf dem Schloss waren nervös.
Sein Diener hatte sich schon lange zur Nachtruhe zurückgezogen, und Seth wusste, dass er ebenfalls zu Bett gehen sollte. Doch er bezweifelte, dass er bei dieser Schwüle überhaupt würde einschlafen können. Schließlich löschte er seine Zigarre trotzdem und legte sich aufs Bett. Er konnte seine Gedanken nicht mehr im Zaum halten, er war zu müde, und es war zu warm. Irgendwo im Schloss lag auch Beatrice in einem Bett. Ein Glück, dass er nicht wusste, wo ihr Zimmer war, sonst würde er vielleicht etwas richtig Dummes anstellen. Zum Beispiel zu ihr gehen und sie anflehen, dass sie … Dass sie was? Dass sie sich seiner erbarmen und ihm erlauben sollte, ihren wunderbaren Körper ein klein wenig zu lieben? Dass sie ihm gestattete, ihr die bronzefarbene Seide Schicht für Schicht auszuziehen, bis ihre cremeweiße Haut ganz entblößt wäre und er jeden Zentimeter an ihr verehren könnte? Aber vielleicht gestattete sie genau das ja gerade Alexandre? Gequält schloss er die Augen. Es war nicht unmöglich, dass die beiden irgendwo in diesem Schloss schwitzend und keuchend in einem Bett beisammen waren.
Beatrice lag auf dem Bett in ihrem schwülen Schlafzimmer. Das Fenster stand offen, doch es war viel zu warm, und irgendwann gab sie ihre Einschlafversuche einfach auf. Sie zog ihren Morgenmantel an, band den Gürtel fest und verließ ihr Zimmer. Sie wollte in die Bibliothek hinuntergehen und sich ein Buch holen.
Sie begegnete keiner Menschenseele, während sie durch die dunklen Flure zur Bibliothek schlich. Die Tür war nur angelehnt, und sie schlüpfte hinein. Aufs Geratewohl griff sie sich im Dunkeln ein Buch. Es ist schwer und bestimmt recht trist, dachte sie zufrieden und wandte sich zum Gehen. Auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer zögerte sie. Natürlich hätte sie denselben Weg zurückgehen müssen, den schnellsten Weg, den vernünftigsten Weg, aber dann verlangsamte sie ihre Schritte und blieb schließlich ganz stehen.
Sie wusste, welche die Tür von Seth war. Langsam ging sie daran vorbei, und plötzlich hörte sie ein Geräusch aus seinem Zimmer. Unschlüssig sah sie sich um. Als sie sich gerade eingeredet hatte, dass es nur eine Einbildung gewesen sei, hörte sie es wieder: ein langgezogenes Stöhnen, ein gequälter Laut. Unschlüssig blieb sie stehen. Wenn ihm nun etwas passiert war? Sie sah sich im dunklen Korridor um und überlegte, ob sie jemand rufen sollte. Der nächste gequälte Schrei aus seinem Zimmer ging ihr durch Mark und Bein, und sie hob die Hand, um vorsichtig anzuklopfen. Stille. Doch als sie erneut ein Stöhnen vernahm, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter, und tatsächlich war die Tür unverschlossen. Ohne lange nachzudenken, schlüpfte sie in sein Zimmer. Sie hielt den Atem an und blinzelte ins Dunkel, wobei ihr völlig klar war, dass es einfach nur dumm war, was sie hier tat. Die Tür zu seinem Schlafzimmer stand offen – noch konnte sie sich umdrehen und gehen. Sie blieb stehen.
«Nein», hörte sie seine heisere Stimme aus dem Schlafzimmer. Sie machte noch
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