Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
genauso gut auf einer dieser abscheulichen Menschenauktionen landen können, auf der arme Leute gegen Mindestgebot versteigert wurden. Gesetzlich geduldete Sklaverei. Seth schauderte bei dem Gedanken. «Das muss eine große Umstellung für Sie gewesen sein», sagte er kurz.
«Nicht so groß wie für meinen Onkel, befürchte ich», erwiderte sie trocken. «Papa und Onkel Wilhelm hatten sehr unterschiedliche Ansichten über die meisten Dinge, nicht zuletzt über Frauen und Kindererziehung. Ich glaube, er hat seine Entscheidung vom ersten Tag an bereut.» Sie trat mit der Fußspitze gegen ein Schilfbüschel. «Mehrere Gouvernanten haben in den letzten Jahren versucht, das Schlimmste abzuschleifen, aber – wie Sie sicher schon bemerkt haben – ich habe immer noch so gewisse Seiten an mir.»
Seth versuchte sich vorzustellen, wie eine elternlose, trauernde Vierzehnjährige sich bemühte, sich der rigiden Welt des Wilhelm Löwenström anzupassen, dem Onkel, der es bereute, sich ihrer angenommen zu haben. Und der ihr – die doch sonst keinen Menschen hatte – das Gefühl gab, unwillkommen zu sein. «Standen Ihr Vater und Sie sich sehr nahe?», fragte er.
«In gewisser Weise schon», antwortete sie zögernd. Sie sah zu ihm auf und beschattete die Augen mit der Hand. «Sie müssen verstehen, dass Papa nach Mamas Tod die ganze Verantwortung für mich übernommen hat. Ich habe eine Ausbildung genossen, wie sie nur wenigen Frauen vergönnt ist. Papa hat mich viel über Kunst, Literatur und Sprache gelehrt.»
«Können Sie sich an Ihre Mutter noch erinnern?», wollte er wissen.
«Mama war sehr besonders. Sie war eine französische Schönheit, und die Liebesgeschichte zwischen ihr und Papa war damals ein großer Skandal in Uppsala. Sie war viel jünger als er, obendrein Katholikin, und sie heirateten ohne das Einverständnis ihrer Eltern. Sie war schön, elegant und still. Ich glaube, es hat sie traurig gemacht, dass ich ihr so gar nicht ähnlich war.» Sie zeigte auf ihr Haar und zog eine Grimasse. «Das soll ich angeblich von meiner Großmutter väterlicherseits geerbt haben.»
Sie blieben stehen und blickten übers Wasser. Es war zugefroren und wie tot – keine Vögel, kein Geräusch außer dem Wind. «Entschuldigen Sie, ich rede viel zu viel», sagte sie.
«Aber nein, bitte erzählen Sie weiter.»
«Ich war überzeugt davon, dass ich an Mamas Tod schuld war», berichtete sie leise. «Ich bekam ein kleines Schwesterchen. Die ganze Zeit über hatte ich mir Sorgen gemacht, dass meine Mutter eine Tochter bekommen würde, die still und süß war, und so eine Schwester wollte ich auf keinen Fall haben.» Sie senkte den Blick, doch ihre Verzweiflung war ihm nicht entgangen. «Ich hatte Angst, dass ich heraufbeschworen haben könnte, was dann geschah. Ich war damals ja erst sechs», fügte sie entschuldigend hinzu.
Sie war also eine phantasievolle Sechsjährige gewesen, die glaubte, am Tod ihrer Mutter und ihrer neugeborenen Schwester schuld zu sein. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, ihr zu erklären, dass sie nichts damit zu tun hatte. Keiner hatte sie getröstet. Seth hätte große Lust gehabt, jemand zu erwürgen.
Sie hatten mittlerweile den vom Sturm umgestürzten Baumstamm erreicht, der die Strandpromenade blockierte, und blieben stehen. Die Sonne schien immer noch, aber im beißenden Wind fühlten sich die Minusgrade noch viel kälter an.
Sie standen dicht nebeneinander. Ihr Haar hatte sich unter dem Schal gelöst und flatterte im Wind. Seth fing eine der roten Strähnen mit der Hand und rieb sie zärtlich zwischen den Fingern. «Und dann sind Sie also bei der Familie Löwenström gelandet. Gab es denn sonst niemand?»
Sie atmete so schwer, dass sich ihre Brust deutlich hob und senkte, doch sie schüttelte nur den Kopf, und er begriff, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte. Genauso schnell, wie er sie ergriffen hatte, ließ Seth die Locke wieder los. Er beschattete das Gesicht mit der Hand und hielt Ausschau nach Johan und Sofia. «Wir sind schon ziemlich zurückgefallen», meinte er. «Kommen Sie, ich helfe Ihnen.» Er hielt ihr die Hand hin und stützte sie, als sie den schmalen Baumstamm überkletterte.
«Danke», murmelte sie.
Er ließ ihre Hand wieder los. Wenn er es nicht getan hätte, hätte er sie geküsst, davon war er überzeugt. Er konnte kaum etwas anderes denken, als wie diese roten Lippen in der Kälte wohl schmeckten. Er zog eine Grimasse. Wäre es nicht so lächerlich gewesen,
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