Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
natürlich.»
Seth blieb an der gefrorenen Küste stehen und sah Beatrice an. Sie hatte sich zu ihm gewandt und betrachtete sein Gesicht. An diesen Blick könnte ich mich gewöhnen, dachte er, fest und ernsthaft, aber gleichzeitig so lebensfroh.
«Haben Sie diese Narbe im Krieg davongetragen?», erkundigte sie sich.
Überrascht fuhr Seth mit der Hand über die Narbe unter der Augenbraue, die er schon ganz vergessen hatte. «Nein, ich habe mich als Kind oft geprügelt, und das ist eine Erinnerung an so einen Zusammenstoß. Als meine Mutter erfuhr, dass ich mich in der Schule geschlagen hatte, wurde sie wütend und jagte mich mit dem Gürtel, und ich hatte solche Angst, dass ich direkt in einen Baum rannte und mir eine Platzwunde an der Augenbraue holte.» Die anderen Kinder hatten ihm hinterhergerufen, dass seine Mutter verrückt sei, und obwohl Seth wusste, dass es stimmte, hatte er sich immer wieder mit ihnen geprügelt. «Das hat mich jedoch nicht vor einer ordentlichen Abreibung bewahrt», erzählte er. «Wenn ich mich recht erinnere, konnte ich hinterher eine Woche lang nicht sitzen.» Im Grunde war es ein Wunder, dass sie ihn damals nicht totgeschlagen hatte, dachte er. Er lächelte Beatrice an, doch sie sah fast peinlich berührt aus, obwohl er bewusst einen leichten Ton angeschlagen hatte.
Sie zog einen Handschuh aus und strich ihm über die Narbe. «Ich hasse körperliche Züchtigungen», sagte sie leise. «Es sollte verboten sein, Kinder zu schlagen.»
Die leichte Berührung lähmte ihn geradezu. Die Glut, die in ihm geschwelt hatte, seit er sie am Vortag im Fenster hatte stehen sehen, loderte jetzt zu einem jähen Feuer auf. Er ergriff ihre Hand. «Was tun Sie da?», fragte er heiser, und sein Blick blieb an ihrem Mund hängen. Sogar ihre Lippen waren sommersprossig, und ein goldener Fleck an ihrem Mundwinkel bettelte geradezu um Aufmerksamkeit. Ein kleiner Kuss, mehr nicht, dann würde er sie in Ruhe lassen. Er hielt immer noch ihre Hand, und jetzt drückte er sie gegen seine Brust. Automatisch spreizte sie die Finger auf seinem Rock, als sich ihre Lippen trafen, und er gestattete sich, in die zarte Wärme ihres Mundes einzudringen. Obwohl er frisch rasiert war, kratzte er ihre Haut, sodass ihre Lippen anschwollen und sich röteten. Sie war unerfahren gewesen, als er sie auf dem Eis küsste, und es spornte ihn an, dass er ihr erster Mann war.
Beatrice legte ihm die andere Hand in den Nacken und zog ihn an sich.
«Hammerstaal.»
Johans Stimme schnitt durch die Luft, und Seth riss sich von Beatrice los. Er atmete tief ein und musste erst einmal seine Gesichtszüge ordnen, bevor er sich Johan zuwenden konnte. Mit dem Körper schirmte er Beatrice ab und gab ihr so Gelegenheit, sich zu sammeln
«Wir wollten jetzt umkehren», verkündete Johan. «Fräulein Sofia friert, und die Damen brauchen sicher ein wenig Zeit, um sich auszuruhen und sich fürs Abendessen umzuziehen.»
«Ich glaube, Fräulein Beatrice hat auch genug frische Luft bekommen», erwiderte Seth mit munterem Ton und wiedergewonnener Selbstbeherrschung. Doch hinter seinem Rücken hörte er Beatrice etwas murmeln, und er musste ein Lachen unterdrücken.
«Hier auf dem Land achten wir für gewöhnlich nicht so sehr aufs Formelle», sagte Iris Stjerneskanz, während sie die Bediensteten geschickt durch das große Esszimmer dirigierte. «Unsere zwei Jüngsten, Gabriella und Christian, sitzen mit uns am Tisch, das ist doch viel amüsanter so, finden Sie nicht auch?»
«Natürlich», bestätigte Beatrice und blickte sich im Esszimmer um, das mit Gardenien und Orangenblüten aus dem Wintergarten geschmückt war. Im Kamin aus schwarz geädertem Marmor knisterte ein Feuer, der ovale Birkentisch war mit elegantem Silberbesteck und einem Gustavsbergs-Service gedeckt, dessen blau-silbernes Porzellan die Flammen des Kronleuchters und des Kaminfeuers reflektierte. Beatrice war als Erste heruntergekommen, aber jetzt trafen nach und nach auch die anderen Gäste ein.
«Miss Mary, Ihr Tischherr ist Herr Erlingsen», erklärte Iris, als die Gesellschafterin und der Pfarrer auf der Schwelle erschienen. Sie behandelte Mary wie einen richtigen Gast, nicht wie eine Dienstbotin, und Beatrice beschloss, dass sie Johans offenherzige Mutter außerordentlich mochte.
«Herr Olav Erlingsen interessiert sich nämlich für englische Literatur und Poesie. Ich wage zu wetten, dass Sie viele Gemeinsamkeiten entdecken werden», fuhr Iris fröhlich fort.
Miss Mary sah
Weitere Kostenlose Bücher