Ein ungezähmtes Mädchen (German Edition)
die er eigentlich streng verschlossen hielt. Vierzehn Jahre war er alt gewesen, als er allein nach Stockholm fuhr, um dort zur Schule zu gehen. Er hatte einfach das Dorf verlassen wollen, und sein Pflegevater versuchte gar nicht erst, ihn davon abzubringen. Doch als armer norwegischer Junge in die Kriegsschule einzutreten, in der die Knaben aus der schwedischen Oberschicht ausgebildet wurden, war alles andere als leicht gewesen. Dennoch waren die Schikanen, denen er in der Schule ausgesetzt war, eine harmlose Frühlingsbrise im Vergleich zu den blutigen Schlachtfeldern in Frankreich.
«Die Leute fragen mich immer, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu töten», erzählte er. «Jedes Mal, wenn vom Krieg die Rede ist. Ich hasse diese Frage.»
«Das kann ich gut verstehen», sagte sie. Dann schwieg sie.
«Kennen Sie Karlberg mit seiner Kriegsschule?», begann Seth nach kurzem Schweigen, denn offenbar hatte sie nicht vor, noch etwas zu sagen. Beatrice bejahte. «Ausgebildete schwedische Offiziere standen im Ausland hoch im Kurs», berichtete Seth. «Wir wurden der schweren Kavallerie zugeteilt, Les Cuirassiers .» Er lächelte freudlos. «Wissen Sie, wie die Leute sie nannten?» Sie schüttelte den Kopf. «Große Männer auf großen Pferden», fuhr er fort. «Wir ritten gern, und wir waren jung. Das Problem war nur, dass die Preußen damals eine neue Waffe entwickelt hatten, das sogenannte Repetiergewehr.» Er holte tief Luft. «Wir wurden geradezu niedergemetzelt, abgeschlachtet wie Vieh.»
Er verstummte. Obwohl das alles inzwischen über zehn Jahre her war, wurde ihm immer noch übel, wenn er daran dachte, wie er Zeuge von Verstümmelungen seiner Kameraden geworden war, wie er sinnlose Gewalt gegen Frauen und Kinder hatte mit ansehen müssen. All die unmenschlichen Befehle, die er hatte geben müssen, der Hunger und die Kälte und die Demütigung, die sie in den Wintermonaten im Gefangenenlager durchlitten hatten. Nein, das war weit entfernt von dem Abenteuer, das sein bester Freund Jacques Denville und er sich vom Krieg erhofft hatten.
«Ich habe mir immer schon gedacht, dass diese heroischen Kriegserzählungen nicht ganz der Wahrheit entsprechen können», sagte sie langsam. «Ihre Eltern müssen doch außer sich gewesen sein vor Sorge, oder nicht? Entschuldigen Sie, möchten Sie vielleicht lieber das Thema wechseln?»
Seth schüttelte lächelnd den Kopf. Mit ihr konnte er darüber reden. «Nein, als der Krieg begann, waren meine Eltern schon lange tot.»
«Dann sind Sie also auch elternlos?», fragte sie und verzog den Mund.
«Ja», er nickte und dachte, dass er wahrscheinlich nicht besonders lange bei seinen Eltern überlebt hätte. Zwischen dem galoppierenden Wahnsinn seiner Mutter und der Abwesenheit seines Vaters stehend, wäre er um Haaresbreite untergegangen.
«Und Ihr Pflegevater?»
Seth bemerkte, dass sie das Thema Krieg nun auf sich beruhen ließen und jetzt über ihn sprachen.
«Mein Pflegevater Olav ist Pfarrer in dem Dorf, aus dem ich komme», erzählte er. «Ich durfte auf den Pfarrhof ziehen, als ich neun war. Meine Mutter war … krank und mein Vater meistens fort. Papa war Kapitän in der norwegischen Handelsflotte. Olav war sowohl Pfarrer als auch Dorflehrer, und er hat sich bemüht, etwas aus mir zu machen.»
«Und dann haben Sie noch einen Bruder, nicht wahr?», fragte sie weiter.
Seth erstarrte. Mit Außenstehenden sprach er nicht über seinen Bruder. Er blickte die Frau an, die ihn mit ihren mitternachtsblauen Augen betrachtete, und sah Intelligenz, Mitgefühl und Neugier. Schließlich gab er seufzend nach. «Meinen kleinen Bruder habe ich erst nach dem Krieg kennengelernt, als ich schon erwachsen war», sagte er. «Er war ein uneheliches Kind meines Vaters und eines Straßenmädchens, und als Christians Mutter starb, durfte er bei Olav einziehen. Wir begegneten uns zum ersten Mal nach dem Krieg, als unsere Eltern schon beide tot waren. Damals war ich zwanzig und er sieben.» Seth wartete gespannt auf ihre Reaktion. Mit unehelichen Kindern war wenig Staat zu machen. Weder in norwegischen Dörfern noch in der schwedischen Oberschicht. Christian hatte viele Schläge einstecken müssen, sowohl bildlich als auch buchstäblich.
«Christian ist ein feiner Junge», meinte sie sanft. «Sie sind sich sehr ähnlich.»
«Abgesehen von meinem Mangel an Bescheidenheit und meinem aufbrausenden Wesen?», sagte er. Es war albern, aber irgendwie freute ihn ihre Antwort.
«Abgesehen davon
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