Ein unsittliches Angebot (German Edition)
Gesellschaft auch nur einen halben Tag lang zu unterhalten – besser gab man sich keinen düsteren Spekulationen darüber hin, wie viele solcher Tage noch folgen würden –, hätte ihre Reserven deutlich geschwächt. Doch Mr James Russell ständig im Auge zu behalten, während er mit jeder Magd Blickkontakt aufnahm, die zufällig den Raum betrat, ständig auf Anzeichen für hinterhältige Gedanken oder Absichten zu lauern, erschöpfte sie mehr, als sie sich hätte vorstellen können.
Falls er sich in den vergangenen sechzehn Jahren überhaupt geändert hatte, dann nicht so weit, dass er ein guter Mensch geworden wäre. Seiner Frau schenkte er so gut wie keine Beachtung; stattdessen hatte er ein ganzes ungemütliches Abendessen damit verbracht, Mr Russells besten Claret hinunterzukippen und Martha mit immer wortreicheren Geschichten aus seiner Kindheit in Sussex zu beglücken, während Mrs James Russell ihren Hasenpfeffer so konzentriert verspeiste, dass ihr keine Zeit für Unterhaltung blieb. Die Schritte, mit denen er im Haus umherging, waren so überheblich, als betrachte er es bereits als sein Eigentum. Was natürlich nicht ganz unverständlich war. Er war hier aufgewachsen und hatte die Räume länger bewohnt als sie. Ein unbeteiligter Beobachter, der nichts von seinen Missetaten wusste, hätte ihm vielleicht sogar das größere Recht auf Seton Park zugesprochen.
Und ein Beobachter würde nichts von seinen Missetaten wissen. Wenn Männern ihre Schuld doch nur ins Gesicht geschrieben stünde oder sie danach riechen würden! Wenn sie doch bloß keine Frauen und Kinder hätten, die die Strafe für ihre Vergehen mittragen mussten. Wie viel einfacher war alles doch gewesen, solange er in der Ferne geblieben war, das unzweifelhafte Ungeheuer ihrer Vorstellung, und nicht dieser völlig normal wirkende Ehemann und Vater. Nichts an seiner Erscheinung deutete darauf hin, dass er die Bedrohung war, gegen die sie den ganzen Haushalt mobilisiert hatte.
Als sie jedoch Stunden später mit einer Hand über dem Mund aufwachte, verkrampfte sich ihr ganzer Körper vor Entsetzen. »Keine Angst«, sagte eine Stimme an ihrem Ohr. »Ich bin’s, Mr Mirkwood. Theo. Es ist alles in Ordnung.«
»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte sie, sobald er seine Hand wegnahm. Ihr Herz galoppierte wie ein durchgegangenes Pferd. Sie konnte nichts sehen.
»Nichts. Schscht.« Seine Finger klemmten ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Das hatte er oft getan, als sie noch das Bett geteilt hatten, und sie kämpfte gegen den Impuls, sein Handgelenk zu ergreifen und festzuhalten. »Es tut mir leid, dass ich dich so wecken musste, aber ich wollte nicht, dass du später von selbst aufwachst und dich erschreckst.«
»Ich verstehe nicht.« Die Panik legte sich, doch die Verwirrung wirbelte umso stärker in ihr. Sie setzte sich auf, weg von seiner Hand. »Wie bist du hier hereingekommen?«
»Du hast mir einen Schlüssel gegeben, weißt du nicht mehr?« Der Ursprung seiner Stimme bewegte sich; er musste aufgestanden sein. »Und ganz, wie ich erwartet habe, hast du Riegel an allen Türen anbringen lassen außer an deiner eigenen.« Jetzt hörte sie, wie er etwas anhob. »Ich werde in diesem Sessel sitzen, direkt hinter der Tür, bis zum Morgen. Heute Nacht und jede Nacht, bis der Bruder deines Mannes wieder verschwunden ist.«
Sie rieb sich mit der Faust das Gesicht. Langsam wurde ihr der Sinn seiner Worte klar. »Diesen Dienst schuldest du mir nicht.«
»Nein. Vermutlich nicht.« Er klang so entfernt, obwohl nur wenige Meter sie trennten.
»Ich frage mich, ob du nicht besser das Treppenhaus zum Dienstbotentrakt bewachen solltest, sodass wir ihn ertappen können, falls er etwas versucht.«
»Hawkins und Perry kümmern sich darum.« Sie hörte, wie er sich ausstreckte und es sich im Sessel gemütlich machte.
»Wer?«
»Henry Hawkins. Zweiter Hausdiener. Jack Perry. Stallmeister.« Offenbar war er inzwischen der Busenfreund von Leuten, die für sie namenlose Dienstboten waren. »Sollte Mr Russell sich auch nur in die Nähe dieses Treppenaufgangs begeben, wird er geschnappt und zur Rechenschaft gezogen. Sollte er versuchen, hier einzudringen, wird ihm noch Schlimmeres widerfahren.«
»Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ich in Gefahr schweben sollte.« Ja, sie konnte wieder klar denken. »Er hat bisher nie –«
»Martha.« Er hätte auf dem Mond sitzen können, so entfernt klang seine Stimme. »Ich möchte das wirklich nicht diskutieren,
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