Ein unverbindliches Ja
Ihrer Mutter zu kämpfen und waren bemüht, Ihrer Schwester beizustehen. Verständlicherweise waren Sie ganz schön angeschlagen. Geht es Ihrer Schwester auch wieder besser oder ist sie noch in der Psychiatrie?«
All das habe ich in den letzten Wochen verdrängt, so gut es eben möglich war.
»Nein, leider nicht. Seit dem Tod meiner Mutter lebt meine Schwester in ihrer eigenen Welt. Es scheint, als wäre ein Teil von Annika ebenfalls gestorben.«
Betreten senke ich meinen Blick. »In ihrem Alltag existiert nichts Normales mehr, wie immer man dies auch definieren mag. Sie hat oft Halluzinationen und meine Kollegen in der Klinik sagen, sie sei manisch-depressiv, gekoppelt mit Schizophrenie, wie man im Volksmund zu sagen pflegt. Ja, es steht nun fest, sie ist bipolar erkrankt. Der tragische Tod war der Auslöser. Verständlich, schließlich war sie es, die Mama gefunden hat. Ihre Psychiatrie-Aufenthalte verlängern sich kontinuierlich, die Zwischenräume verkürzen sich dementsprechend. Suizidversuche und extreme Schlafstörungen begleiten nun ihr Leben. Wenn wir miteinander sprechen, ist sie so verwirrt, dass ich oftmals nicht weiß, wer von uns beiden den Verstand verloren hat. Sie spricht so überzeugt mit außerirdischen Wesen, dass ich diese Kreaturen beinahe vor mir sehe. Oft sitze ich bei ihr und tauche in ihre geheimnisvolle Welt verrückter Gedankenspiele ein.«
Mir fällt eine sehr verwirrende Begebenheit ein. Es ist gar nicht lange her. Genau genommen war es letzte Woche, als ich Annika besucht habe.
Sie hielt sich für eine Meerjungfrau und war vier Stunden lang nicht aus der Badewanne zu bewegen. Als CD-Player stand der Toaster neben ihr. Sie hörte angeblich gerade den Song To Hash Hash von Kajagoogoo aus den 80ern und sang lauthals mit. Manchmal waren Annikas Wahnvorstellungen beängstigend.
Auch ich muss ständig an meine Mutter denken. Vorhin, auf dem Weg hierher, als am Bordstein ein verendetes Mäuschen lag, fiel mir sofort wieder ein Erlebnis meiner Kindheit ein.
Ich war so ungefähr sechs Jahre alt, als ich vom Rollschuhlaufen nach Hause kam, um meine blutigen Knie verarzten zu lassen. Beim Gang durch den Flur entdeckte ich, dass Mausepaule tot in seinem Käfig lag. Sofort nahm ich ihn in die Hand – er war eiskalt.
»Mama! Mama! Oh, Gott! Komm schnell her!! Mausepaule ist …« Ich brach in Tränen aus und konnte nicht weitersprechen.
Als meine Mutter neben mir stand, sah sie sofort, was los war. Mit trauriger Stimme versuchte sie mich zu trösten: »Oh nein! Das tut mir leid. Gestern war er doch noch so munter. Weißt du, Mareike, Mäuse werden meist nicht älter als zwei Jahre, und auch wenn es kein Trost für dich ist, dieses Alter hatte er doch weit überschritten.«
Als ich mir laut schluchzend die Tränen aus dem Gesicht wischen wollte, umfasste sie meine Handgelenke, um die Bewegung zu unterbrechen, und fügte hinzu: »Ein schlauer Dichter hat einmal gesagt, dass man sich nicht mit den Händen die Tränen aus dem Gesicht wischen soll.«
»Aber ich habe doch gerade kein Taschentuch da.«
»So ist es auch nicht zu verstehen. Es soll heißen, dass man sich nicht für seine Gefühle schämen soll.«
»So schlau kann dieser Mann aber nun auch wieder nicht gewesen sein.«
»Wieso nicht?«
»Na, dann hätte er es gleich so gesagt, wie er es meint.«
Mama lächelte. So warmherzig – ich sehe es noch genau vor mir.
Doch bei dieser Sitzung mit Maria Preis möchte ich nicht über meine Erinnerungen an meine Mutter sprechen. »Ehrlich gesagt bin ich noch nicht so weit, um näher ins Detail gehen zu können, lassen Sie uns das auf die nächste Sitzung verschieben.«
Ich weiß, dass ich jetzt am Zuge bin und etwas anderes erzählen sollte, doch der Kopf kann nicht immer auf Kommando ausgeschaltet werden. Während ich noch intensiv nach der passenden Einleitung suchen, kommt mir Maria mit einem Themenwechsel zuvor:
»Was würden Sie tun, wenn Sie ein Mann, den Sie kaum kennen, fragt, ob Sie ihn nach England begleiten? – Für immer!«
Lächelnd erwidere ich: »Ich würde mit voller Kraft voraus die Insel ansteuern.« Es ist wunderbar, für andere stets den passenden Ratschlag bei der Hand zu haben. »Erstens hat mir das neulich auch jemand geraten, den ich sehr schätze, und zweitens sind wir beide keine zwanzig mehr.«
Gut, dass sie nicht weiß, dass dieser Ratschlag von einem Patienten stammt. Verkehrte Welt!
Warum lächelt Maria jetzt? Ob sie sich das denken kann? »Wenn Sie
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