Ein unverschaemt charmanter Getleman
entschwand und ließ die Hinterbliebenen wie üblich in Verwunderung zurück.
Die Briefe aus Oldridge Hall - von Miss Oldridge geschrieben und von ihrem Vater signiert - erreichten erst nach Mitternacht ihre Londoner Bestimmungsorte.
In Lord Hargates Haushalt war es kein ungewöhnliches Vorkommnis, dass zu ungewöhnlicher Stunde Expressschreiben eintrafen. Wenngleich er dem Ministerium nicht angehörte, so war er doch hinter den Kulissen sehr umtriebig und verschickte und empfing fast ebenso viele Nachrichten von bedeutsamer Dringlichkeit, wie Lord Liverpool, Oberster Schatzkanzler und Premierminister, es tat.
Folglich verursachte der Brief keinen Aufruhr in Hargate House. Da sie, wie üblich, einen geruhsamen Sonntag verbracht hatten, befanden der Earl und seine Gemahlin sich zu Hause in den Gemächern Ihrer Ladyschaft. Sie erfreuten sich gerade an einer lebhaften Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der häuslichen Angelegenheiten ihres ältesten Sohnes, als ein Diener ihnen den Brief brachte.
Sobald sein Blick auf den Absender fiel, zog Lord Hargate die Augenbrauen in die Höhe und reichte das Schreiben seiner Frau, damit sie es lese, was sie auch tat, und zwar laut.
Als sie geendet hatte, zuckte Lord Hargate mit den Schultern und füllte sich sein Weinglas nach. „Ein gestauchter Knöchel. Oldridge Hall. Es hätte schlimmer kommen können.“ „Ich finde“, merkte seine Gemahlin an, „dass es gar nicht besser hätte kommen können.“
Bei Lord Gordmor hingegen vermochte die Nachricht aus Oldridge Hall weit mehr Bestürzung hervorzurufen, und das war seiner Schwester zu verdanken.
Lady Wallantree hatte beschlossen, einen langweiligen Sonntagabend bei ihrem genesenden Bruder zu verbringen, dessen Gesellschaft sie selbst dann, wenn er krank war, weniger ermüdend fand als die ihres Gatten. Sie hatte gerade ihre Kutsche für die Heimfahrt herbeibeordern wollen, als ein Hausdiener mit dem Brief in den Salon kam.
Da Expressschreiben sehr teuer waren, fanden sie außerhalb der Politik und des Militärs kaum Verwendung, und nur selten brachten sie gute Kunde. Deshalb lösten sie in Haushalten, die nicht gar so bedeutend waren wie jene von Premierministern und Earls of Hargate, oft eine gewisse Unruhe aus -um nicht zu sagen Besorgnis.
Lady Wallantree hatte nicht die Absicht, vor Neugier umzukommen. Mittlerweile würde ihr Gatte zu Bett gegangen sein. Nur ein paar Dienstboten würden noch auf sein und ihre Rückkehr erwarten. Sie wüsste nicht, warum sie sich wegen ein paar Dienstboten Unannehmlichkeiten bereiten sollte.
Die Privatsphäre ihres Bruders schätzte sie nicht höher ein als das Wohlergehen ihrer Dienstboten oder ihres Gemahls. Nachdem sie ihm zwei Sekunden Zeit gelassen hatte, den Brief zu lesen, sprang sie auf und riss ihn ihm aus der Hand.
Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich zurück auf seine Chaiselongue sinken und fragte sich, warum nur von den beiden Menschen, denen die Grippe nichts anzuhaben vermochte, einer einhundertfünfzig Meilen entfernt in Derbyshire weilte und der andere seine Schwester war.
„Vielleicht möchtest du so gut sein, mich bei Gelegenheit mit dem Inhalt vertraut zu machen, Henrietta“, meinte Lord Gordmor.
Sie las ihm den Brief vor.
Er versuchte noch immer, die Neuigkeiten zu verdauen und sich darüber klar zu werden, was er davon halten solle, als sie sagte: „Ich bin sehr erleichtert, dass Carsington nicht ernstlich verletzt ist, aber um deinetwillen wünschte ich, dass er nicht ausgerechnet in Oldridge Hall gelandet wäre. Wenngleich Oldridge den Brief unterschrieben hat, so ist er doch in der Handschrift einer Frau verfasst.“
„Das kann ich nicht beurteilen, da du mir ja kaum Gelegenheit gelassen hast..."
„Ich vermute, dass diese Frau Oldridges Tochter ist“, fuhr seine Schwester fort. „Sie hat William Poynton abgewiesen und ihn sich zum Narren machen lassen.“ Sie spitzte nachdenklich die Lippen. „Doch das war vor deiner Zeit - du gingst damals noch zur Schule. Sie muss mittlerweile jenseits der dreißig sein, und eine Schönheit wie die ihre währt nicht lange. Womit ich keineswegs sagen will, dass sie vor zwölf Jahren eine große Schönheit gewesen wäre. Sie war noch nie sehr einnehmend, mit diesem aprikosenfarbenen Haar und solch einem absonderlichen Gebaren, du liebe Güte! Aber wer könnte vor dem Vermögen die Augen verschließen? Das war auch der Grund, weshalb der halbe Adel ihr seine Söhne zu Füßen warf. Oh ja, Douglas, ich
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