Ein unwiderstehliches Angebot: Roman (German Edition)
Kleinen, der die Bedeutung von Tod und Sterben nicht wirklich begriff, zu beantworten. So gut, wie es ihm eben möglich war. Und dann hatte er es offenbar seiner Freundin Vivian erzählt.
»Du siehst ein wenig überrascht aus.« Vivian sprach sehr leise, und das Grün ihrer Augen wurde dunkler. »Beunruhigt dich irgendwas?«
»Nein.« Er nahm sich einen Augenblick Zeit zum Nachdenken. »Ich beginne nur langsam zu begreifen, wie eng du mit meinem Bruder verbunden bist.«
»Verbunden? Charles und ich sind einfach unser Leben lang befreundet gewesen.«
»So gut befreundet, dass du ihn ermutigt hast, die Tochter des Vikars zu entführen, obwohl du dadurch selbst in eine prekäre Lage geraten bist.«
Nach einem Moment nickte sie. »Ja, das stimmt.«
Loyalität war eine Eigenschaft, die er bei seinen Freunden sehr schätzte. Aber die unverbrüchliche Treue, mit der sie zu Charles hielt, lag noch einmal auf einer ganz anderen Ebene. Unwillkürlich versetzte es ihm einen Stich. War er etwa eifersüchtig? Bevor er sich in diesen Gedanken hineinsteigerte, wechselte er lieber das Thema.
»Die Hochzeit könnte in drei Wochen stattfinden, falls du nichts dagegen hast. Verzeih, wenn ich vorgreife, doch ich habe einfach angenommen, dass du ebenfalls keinen gesteigerten Wert auf eine große Feier legst. Falls ich das nicht richtig sehe …«
»Nein, schon in Ordnung. Bloß keine bombastische Inszenierung«, unterbrach sie ihn und erschauerte unwillkürlich. »Klein und ruhig ist ganz in meinem Sinne. Vermutlich hat meine Mutter dir andere Vorstellungen unterbreitet, und es könnte schwer werden, sie vom Gegenteil zu überzeugen.«
Lucien verzog den Mund zu einem Lächeln. Er erinnerte sich lebhaft an den entsetzten Gesichtsausdruck von Lady Lacrosse, nachdem er ihr zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben hatte, dass er nicht viele Monate damit warten würde, ihre Tochter in sein Bett zu holen. Ob mit oder ohne Trauschein. »Ich glaube«, sagte er gelassen, »ich habe sie bereits davon überzeugt, unsere Ansicht zu teilen.«
Als Vivian nach Hause zurückkehrte, fühlte sie sich merkwürdig. Verwirrt und euphorisch zugleich. Und all das nur, weil der Marquess, der bald ihr Ehemann sein würde, sie auf eine kleine Ausfahrt in den Park mitgenommen hatte.
Was war Besonderes daran, dass er sein Gespann eigenhändig lenkte? Warum bewunderte sie die Geschicklichkeit seiner schlanken Finger? Wieso registrierte sie, dass der Wind seine schönen dunklen Haare durcheinanderbrachte, denn das pflegte er schließlich immer zu tun? Weshalb konnte sie den Blick nicht von seinem leichten Lächeln abwenden, das gleichermaßen geheimnisvoll und faszinierend war?
Und warum vor allem nahm sie es so wichtig, dass alle sie gemeinsam sehen konnten? Sie, die sich niemals zuvor über so etwas den Kopf zerbrochen hatte. Der es egal war, was die Leuten dachten. Im Positiven wie im Negativen.
Außerdem sollte sie um Himmels willen einen klaren Kopf behalten, dachte sie, während sie ihr Kleid öffnete und die Haarnadeln aus dem Knoten zog. Lucien konnte zweifellos charmant sein, doch es wäre hochgradig dumm von ihr, daraus anderes abzuleiten, mehr zu erwarten, als er vielleicht zu geben bereit war. Damit würde sie sich nur verletzbar machen und eine weitere Enttäuschung riskieren. Dann lieber erst gar keine Hoffnungen aufkommen lassen
Was allerdings leichter gesagt als getan war.
Nur mit dem Unterhemd bekleidet, legte sie sich aufs Bett und starrte zur Decke hoch. Charles hatte ihr einmal erzählt, Lucien sei ganz anders, als er in der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Aber wie war er denn in Wirklichkeit? Was verbarg sich hinter der Fassade?
Vivian schloss die Augen, genoss den kühlen Abendwind, der durchs geöffnete Fenster wehte, und roch den Rauch, der aus den Kaminen aufstieg. Sie waren zusammen gesehen worden, manch einer, der ihnen begegnete, hatte die Hand gehoben und Lucien zugewinkt, und ständig folgten ihnen neugierige Blicke.
Eigentlich genau die Art von Aufmerksamkeit, der sie bislang aus dem Weg gegangen war. Und doch hatte sie den Nachmittag mit ihm genossen. Sehr sogar.
Alles war jedenfalls besser als eine weitere Saison, überlegte sie und drehte sich auf den Bauch.
Das hier war ein Abenteuer.
Kapitel 5
Die verwitwete Duchess of Eddington wurde um genau halb zehn am Morgen im Londoner Stadthaus des Marquess of Stockton gemeldet, und Lucien war sich nicht ganz sicher, was ihm bei diesem ungewöhnlich frühen Besuch
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