Ein Vampir für alle Fälle
natürlich, und er reichte mir ein glänzendes, sehr anständig eingeschenktes Glas Scotch. Ich serviere zwar Hochprozentiges, trinke es aber nur selten. Und die meisten Leute hier bestellen bloß das übliche Zeug: Bier, Bourbon-Coke, Gin Tonic, Jack Daniel's.
Ich stellte das Glas vor Mr Carmichael auf den Tisch, mit einer Cocktailserviette, und brachte ihm noch eine kleine Schale gemischter Snacks.
Dann überließ ich ihn sich selbst, denn ich musste noch andere Gäste bedienen. Aber ich beobachtete ihn. Und mir fiel auf, dass auch Sam Amelias Vater aufmerksam im Auge behielt. Doch alle anderen waren viel zu sehr mit sich selbst und ihren Drinks beschäftigt, um sich um diesen Fremden zu kümmern, der nicht annähernd so interessant erschien wie Claude und Claudine.
Dann, als ich gerade nicht hinsah, setzte sich eine Vampirin zu Copley. Außer mir erkannte das vermutlich niemand, denn sie war eine noch sehr junge Vampirin, das heißt, noch keine fünfzig Jahre untot. Ihr früh ergrautes, silbriges Haar trug sie zu einem praktischen kinnlangen Pagenkopf geschnitten. Sie war klein, vielleicht 1,60 Meter groß, wohlgeformt an all den richtigen Stellen, und sie trug eine kleine Brille mit Silbergestell - die reinste Heuchelei. Ich hatte noch nie einen Vampir kennengelernt, dessen Sehvermögen nicht absolut perfekt und schärfer als das jedes Menschen gewesen wäre.
»Darf ich Ihnen etwas Blut bringen?«, fragte ich.
Ihre Augen waren wie Laser. Schenkte sie einem ihre volle Aufmerksamkeit, bereute man, sie angesprochen zu haben.
»Sie sind die Menschenfrau Sookie«, sagte sie.
Ich sah nicht ein, warum ich etwas bestätigen sollte, dessen sie sich so sicher war. Also wartete ich ab.
»Ein Glas TrueBlood, bitte«, sagte sie. »Recht warm. Und ich will Ihren Boss sprechen, sagen Sie ihm das.«
Als wäre Sam irgendein Knochen. Aber egal, sie war der Gast, ich die Kellnerin. Also stellte ich ein TrueBlood in die Mikrowelle und erzählte Sam, was sie wollte.
»In einer Minute«, sagte er, denn er machte gerade ein Tablett voller Drinks für Arlene fertig.
Ich nickte und brachte der Vampirin das Blut.
»Danke«, sagte sie höflich. »Ich bin Sandy Sechrest, die neue Repräsentantin des Königs von Louisiana.«
Ich konnte nicht einschätzen, wo genau Sandy Sechrest aufgewachsen war, aber es musste in den Vereinigten Staaten gewesen sein, wenn auch nicht im Süden. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich ohne allzu große Begeisterung. Repräsentantin des Königs? Waren die Sheriffs der Bezirke, die viele verschiedene Funktionen hatten, nicht auch die Repräsentanten des Königs? Und was hatte das für Eric zu bedeuten?
In dem Augenblick kam Sam an den Tisch, und ich ging, um nicht neugierig zu erscheinen. Außerdem konnte ich es später vermutlich sowieso seinen Gedanken entnehmen, falls Sam mir nicht erzählen würde, was die neue Vampirin von ihm wollte.
Die drei unterhielten sich einige Minuten miteinander. Dann entschuldigte Sam sich, weil er wieder hinter den Tresen musste.
Gelegentlich sah ich zu der Vampirin und dem mächtigen Geschäftsmann hinüber. Hätte ja sein können, dass sie noch einen Drink wollten, doch keiner ließ Durst erkennen. Sie sprachen sehr ernst miteinander, und beide erwiesen sich als echte Experten in Sachen Pokerface. Aber so sehr, dass ich mich in Copley Carmichaels Gedanken eingeklinkt hätte, interessierte mich das Gespräch nun auch wieder nicht, und Sandy Sechrest war sowieso eine Leerstelle für mich.
Ansonsten verlief dieser Abend wie immer. Ich bemerkte es nicht mal, als die Repräsentantin des neuen Königs und Mr Carmichael die Bar verließen. Und dann war es an der Zeit, aufzuräumen und die Tische fertig zu machen für Terry Bellefleur, der früh am nächsten Morgen saubermachen würde. Als ich mich schließlich umsah, waren alle außer Sam schon weg.
»Hey, bist du durch?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich nach einem letzten Blick.
»Hast du eine Minute für mich?«
Für Sam hatte ich doch immer eine Minute.
Kapitel 16
Sam setzte sich in den Holzstuhl hinter seinem Schreibtisch und lehnte sich in dem üblichen gefährlichen Winkel zurück. Ich saß auf einem der Stühle davor, dem mit der weichsten Polsterung. Die meisten Lampen im Merlotte's waren schon ausgeschaltet, nur die über dem Barbereich, die immer anblieb, und die in Sams Büro nicht. Es herrschte eine fast unheimliche Stille im Gebäude nach der Kakophonie all der Stimmen, die die
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