Ein Vampir für jede Jahreszeit
erhaschte einen Blick auf ihre nackten Waden.
»Die Wanne ist noch voll. Wenn du möchtest, kannst du gleich reinsteigen«, sagte sie zu ihm und verschwand nach draußen. Sie schloss die Tür hinter sich. Tiny seufzte. Seine Hoffnungen, dass ihr das Handtuch vielleicht herunterfallen könnte, waren auch wirklich übertrieben gewesen. Was soll’s … Er würde den stinkigen Dreck wegduschen und dann eines der Sandwiches essen, die er mitgebracht hatte. Zwar hatte er jetzt schon mächtig Hunger, aber allein die Vorstellung, in seinem momentanen widerlichen Zustand etwas zu essen, brachte ihn zum Würgen.
7
Als Mirabeau das Zimmer betrat, saß Stephanie im Schneidersitz auf dem hinteren Bett – was wohl bedeutete, dass das Bett an der Tür ihr gehörte. Sie warf die Kleidung auf die Bettdecke, wickelte sich aus dem Handtuch und nahm die Jogginghose in die Hand. Ihr war bewusst, dass Stephanie sie die ganze Zeit über beobachtete. Doch Nacktheit war ihr nicht peinlich. Die Nanos, die in den Körpern der Unsterblichen wirkten, waren darauf programmiert, Krankheiten zu bekämpfen, Verletzungen zu reparieren und den Organismus auf der Spitze seiner Leistungsfähigkeit zu halten. Das bedeutete, dass sie für immer jung und gesund blieb – und sie wusste, dass sie großartig aussah. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich in ihrem langen Leben anderen bisher so oft – und aus verschiedenen Gründen – nackt gezeigt hatte, dass es ihr inzwischen nichts mehr ausmachte. Es war ihr im Grunde sogar egal, weshalb sie keine Peinlichkeit verspürte. Sie realisierte nicht einmal richtig, dass sie nackt war, bis Stephanie plötzlich überrascht feststellte: »Du rasierst die Beine nicht.« Erschrocken riss sie die Augen auf und hakte sofort nach: »Aber wir können uns doch rasieren, oder? Die Nanos lassen sie doch hoffentlich nicht sofort wieder nachwachsen.«
Mirabeau hielt inne und betrachtete ihr Bein. Es war von einem feinen Haarflaum bedeckt, um den sie sich bis zu Stephanies Bemerkung niemals Gedanken gemacht hatte. Jetzt störte er sie allerdings plötzlich. Sie würde auf dem Weg nach Port Henry irgendwo einen Rasierer auftreiben und … das abrasieren, bevor sie Tiny verführte.
Ja, sie wurde sich immer sicherer, dass sie dies tun wollte, sobald sie diese Aufgabe hier erledigt hätten. Er sah nicht nur gut aus, sondern sie fand auch seine Persönlichkeit immer anziehender. Aus Marguerites Erzählungen hatte sie ja bereits erfahren, dass er ein guter Mensch war, doch das Mitgefühl und die Geduld, die er Stephanie entgegenbrachte, nahmen sie noch mehr für ihn ein. Sie selbst war nicht sehr geduldig, war es noch nie gewesen. Vielleicht gefiel er ihr gerade wegen dieser Charaktereigenschaft so gut.
Sie schob die Gedanken an Tiny zur Seite und erklärte Stephanie: »Selbstverständlich können wir uns rasieren. Haare sind doch nur Stränge aus toten Zellen. Die sind den Nanos völlig egal.«
»Oh«, entgegnete Stephanie erleichtert und fragte interessiert: »Warum rasierst du dich dann nicht?«
»Das tu ich schon, ich hab mir in letzter Zeit bloß nicht die Mühe gemacht«, brummte sie als Antwort. Mirabeau hatte, wie alle anderen Frauen der Welt auch, angefangen sich zu rasieren, als es in Mode gekommen war. Aber sie hatte schon so lange keine Lust mehr auf eine Verabredung oder etwas Ähnliches gehabt, dass sie es irgendwann einfach wieder bleiben gelassen hatte.
»Wie ist das so?«, fragte Stephanie, nachdem Mirabeau die Hose übergestreift hatte und nach dem Hemd griff.
»Was?«, entgegnete sie gedankenverloren und zog das Oberteil über.
»So alt zu sein?«
Erbost drehte sich Mirabeau nach dem Mädchen um, doch bevor sie sie anfahren konnte, fügte Stephanie schnell hinzu: »Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich meinte nur, du weißt schon … wie ist es, so lange zu leben?«
Mirabeau zwang sich zur Ruhe und entgegnete schulterzuckend: »Keine Ahnung. Es ist eben so. Du wirst es schon noch selbst erleben.«
»Ja, in einem Jahrhundert oder so«, erwiderte Stephanie und verfolgte schweigend, wie Mirabeau zum Spiegel ging, sich mit den Fingern durchs feuchte Haar fuhr und versuchte, die wirren Strähnen zu ordnen.
Mirabeau stellte fest, dass das ohne Bürste oder Ähnliches ein hoffnungsloses Unterfangen darstellte. Missmutig betrachtete sie ihr Spiegelbild und fragte sich, ob sie die übrig gebliebenen Extensions wohl selbst entfernen könnte oder einen Friseur dafür bemühen müsste. Als ihr der Typ
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