Ein Vampir für jede Jahreszeit
Kinder.«
»Und deine Familie hielt sich zu dieser Zeit in Paris auf?«, fragte Tiny nachdenklich.
»Nein. Und sie waren auch keine Protestanten, sondern Katholiken. Sie sind erst Ende September gestorben und nicht im August. Bis zum Oktober jenes Jahres flammte überall im Land eine ähnliche Gewalt auf. Das geringste Anzeichen protestantischen Glaubens genügte schon, um eine ganze Familie zum Tode zu verurteilen.
Ich weiß nicht, ob mein Onkel seine Taten von langer Hand geplant hat und die Massaker nur eine passende Tarnung waren oder ob ihn die Gewalt im Land angestachelt hat. Jedenfalls hatte er vor zu behaupten, dass wir alle in den Verdacht geraten wären, Protestanten zu sein und in unserer Scheune in Ketten gelegt und bei lebendigem Leib verbrannt werden sollten.«
»So ein fieser Mistkerl«, kommentierte Tiny grimmig. »Offensichtlich ist sein Plan aber nicht aufgegangen.«
Mirabeau sah ihn fragend an, dann bemerkte er: »Du bist noch am Leben.«
»Ach so, ja.« Nachdenklich blickte sie aus dem Fenster. »Ich lebe aber nur noch, weil ich eine aufsässige Siebzehnjährige war und mich heimlich aus der Burg geschlichen habe, um mit einem äußerst attraktiven Stallburschen namens Frederique heimlich in den Ställen Wein zu trinken.«
Sie warf Tiny einen schnellen Blick zu und bemerkte, wie seine Mundwinkel amüsiert zuckten. Sie wünschte, sie selbst könnte auch über diese Sache schmunzeln, aber obwohl das alles schon so weit zurücklag, war ihr nicht zum Lachen zumute. »Mein Onkel kam zum Abendessen. Nach dem Mahl gingen er, mein Vater und meine Brüder hinaus, um ein Pferd zu begutachten, das mein Vater kurz zuvor erstanden hatte. Wahrscheinlich wurden sie in den Ställen von den Schergen meines Onkels bereits erwartet. Die haben sie überrumpelt und in dem Augenblick, in dem sie den Stall betraten, abgeschlachtet. Als ich mich zu Frederique schlich, waren die Ställe verlassen. Ich ging davon aus, dass sie schon wieder in die Burg zurückgekehrt wären.« Sie schürzte die Lippen und setzte verbittert hinzu: »Und mein Onkel war tatsächlich in die Burg zurückgekehrt … um sich meine Mutter zu holen.«
Sie schloss kurz die Augen, bevor sie weitersprach. »Ich saß mit Frederique auf dem Heuboden und habe getrunken. Er versuchte gerade, mich zu küssen, als mein Onkel mit meiner Mutter im Schlepptau in den Stall kam, um ihr zu zeigen, was er getan hatte. Die enthaupteten Leichen meiner Brüder und meines Vaters hatten die ganze Zeit unter einer dünnen Strohschicht versteckt gelegen, während Frederique und ich auf dem Heuboden gezecht hatten. Er zeigte sie ihr also und verlangte, dass sie nun seine Lebensgefährtin würde.«
»Moment mal«, unterbrach Tiny erstaunt. »Seine Lebensgefährtin? Wie soll denn das gehen? Sie war doch schon die Gefährtin deines Vaters. Und wo waren zu diesem Zeitpunkt eigentlich die Männer deines Onkels?«
»Er hat sie wohl fortgeschickt, um sich allein mit meiner Mutter und mir auseinandersetzen zu können.« Mirabeau verzog das Gesicht und erklärte dann: »Weißt du, mein Onkel konnte meine Mutter nicht kontrollieren und auch nicht lesen. Sie hätte die Lebensgefährtin beider Brüder werden können, aber sie hat sich für meinen Vater entschieden.«
»Eine kluge Frau«, brummte Tiny.
Seufzend entgegnete Mirabeau: »Schon, aber ich glaube, genau das hat meinen Onkel wahnsinnig gemacht. Denn hätte sie ihn erwählt, dann hätte er all das gehabt, was mein Vater besaß.«
»Verstehe.« Tiny nickte bedächtig. »Es muss schwer für ihn gewesen sein, das zu ertragen. Tut mir leid. Erzähl weiter.«
Mirabeau holte tief Luft und schluckte den Schmerz hinunter, der sie immer wieder überkam, wenn sie an diese Geschehnisse zurückdachte. Seit der Nacht, in der Lucian zu ihr gekommen war und sie ihm unter Tränen diese Geschichte erzählt hatte, hatte sie sie mit niemandem mehr geteilt. Verwundert stellte sie fest, dass es diesmal nicht mehr so schlimm war. Sie fragte sich, ob das wohl an der Zeitspanne lag, die seither vergangen war, oder daran, dass sie sie diesmal Tiny erzählte. Zwar taten die Erinnerungen nach wie vor weh und trieben ihr die Tränen in die Augen, doch sie quälten sie bei Weitem nicht mehr so wie früher.
Mirabeau senkte den Blick und bemerkte, dass seine große Hand auf ihrem Bein lag. Wann hatte er sie dort hingelegt?
Sie räusperte sich und setzte den Bericht fort. »Mein Onkel verlangte von meiner Mutter als Gegenleistung für mein
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