Ein Vampir für jede Jahreszeit
Ein Eheweib musste aufrichtig sein, genau, wie Alices Mutter. Und sie musste ein gewisses Selbstwertgefühl mitbringen, um für ihren Sohn attraktiv zu sein.
Ein Rascheln in den Büschen erregte Lady Fairleys Aufmerksamkeit. Für einen kurzen Moment entdeckte sie dort ein Augenpaar, das durch die Zweige spähte und dann wieder verschwand.
Aha!, dachte sie selbstzufrieden. Jonathan war ihr also gefolgt … genau, wie sie gehofft hatte. Wie erwartet missfiel ihm der Gefährte, den sie sich für diesen Ausflug ausgewählt hatte. Einfach perfekt. Eigentlich hatte sie sich erhofft, dass Alice an der Seite ihres Sohnes sein würde – denn wahrscheinlich war der aussichtsreichste Weg, die beiden zu verkuppeln, die beiden so häufig wie möglich zusammenzubringen – aber Hauptsache, alles ging seinen Gang.
Halt! Das Schicksal meinte es offenbar gut mit ihren Plänen, denn Margaret bemerkte, dass im Unterholz ein hellrosa Tuch aufleuchtete. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihr Sohn diese Farbe nicht tragen würde.
Sie widmete sich wieder dem Mittagessen, das sie aufgetischt hatte, und flüsterte dabei so leise, dass nur Lord Houghton sie hören konnte: »Wir haben Besuch bekommen.«
Der alte Adlige, der sich gerade angeschickt hatte, sich auf der Decke niederzulassen, sprang, sehr zu Lady Fairleys Verblüffung, hektisch auf, zog linkisch sein Schwert aus der Scheide und wirbelte herum, wobei er angstvoll ausrief: »Was ist da? Ein Wolf? Ein Wildschwein?«
Lady Fairley verdrehte angesichts seiner panischen Reaktion die Augen, zupfte ihn an der Kniehose und zischte unwirsch: »Setz dich, du alter Narr. Ich meinte doch meinen Sohn und deine Nichte.«
Dass sie sich mit diesem Dummkopf abgab, bewies, wie sehr sie ihren Sohn liebte. Lord Houghton steckte etwas beschämt sein Schwert weg und ließ sich nun doch neben ihr auf der Decke nieder. Dabei knurrte er: »Das hättest du auch gleich sagen können.«
Margaret kniff verärgert die Lippen zusammen und spähte so diskret wie möglich nach den Büschen, konnte dort jedoch nichts mehr entdecken. In der Hoffnung, dass dem Paar, das sich dort verbarg, Lord Houghtons befremdliches Benehmen entgangen war, ergriff sie die Schale mit den Erdbeeren. Es wurde Zeit für den zweiten Teil ihres Planes.
»Was tun wir hier?«
»Pst«, zischelte Jonathan und beobachtete weiter das Paar auf der Lichtung. Was ging dort vor? Lord Houghton war gerade aufgesprungen und hatte mit gezücktem Schwert eine Drehung auf der Picknickdecke vollführt, als wollte er eine Horde Banditen abwehren.
Versuchte der alte Simpel seine Mutter etwa mit der Aufführung erfundener Heldensagen zu beeindrucken? Wenn ja, dann war alles in bester Ordnung, denn Lady Fairley war eine kluge Frau und derartiges Getue würde ihr kaum imponieren – insbesondere von einem Spaßvogel wie Lord Houghton. Der Mann konnte Jonathans Vater nicht das Wasser reichen, denn der war ein wahrer Rittersmann und Ehegatte gewesen!
Zuversichtlich spähte er wieder durch die Büsche. Seine Mutter hatte sich inzwischen zu dem dümmlichen Lord Houghton gebeugt und bot ihm nun eine Erdbeere an. Seltsamerweise hielt sie ihm nicht einfach die Schüssel hin, sondern drückte ihm die Frucht direkt an die Lippen, als wäre er ein Kleinkind, dass gefüttert werden musste.
»Was passiert da?«, erklang Alices ungeduldige Stimme an seinem Ohr.
Er verzog das Gesicht und war ebenfalls irritiert. »Das versuche ich doch gerade herauszufinden! Warum füttert sie ihn? Ist Euer Onkel inzwischen so hinfällig, dass er nicht mehr allein essen kann? Muss er wie ein Säugling gepflegt werden?«
Alice rückte näher heran, um das Pärchen durch die Blätter beobachten zu können. Ungeduldig zuckte sie mit den Schultern und meinte dann mürrisch: »So füttert man kein Kind, sondern einen Liebhaber.«
»Einen Liebhaber?«, fragte er steif. »Ausgeschlossen. Das sähe meiner Mutter nicht ähnlich. Außerdem verstehe ich nicht, was Ihr meint.«
Alice blickte noch einmal flüchtig durch die Büsche und sah ihn dann mit weit aufgerissenen Augen an. »Ihr begreift es tatsächlich nicht?« Sie seufzte und schien unverständlicherweise verärgert. Dann rappelte sie sich auf. »Wartet hier.«
»Was habt Ihr vor?«
Alice beachtete ihn nicht mehr, sondern schob sich durch die Büsche auf die Lichtung hinaus. Sein aufgeregt gezischter Protest verhallte ungehört. Alice marschierte direkt auf das Paar auf der Picknickdecke zu. Die Fassungslosigkeit, die ihr
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