Ein verboterner Kuss
Grace ein. Bei der Gelegenheit konnte sie vielleicht gleich Leute einstellen, die wirklich Arbeit suchten. Sie wandte sich zum Gehen. „Vielen Dank, Mrs Wigmore"
Eine knorrige, uralte Hand hielt sie zurück. „Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Ein Stück weiter von hier, mitten im Wald, liegt Gwydions Teich. Davor sollten Sie sich hüten. Es mag ein verwunschener Ort sein, aber für weibliche Wesen ist er gefährlich. Gwydion ist einer der alten Götter, und wenn ein junges Mädchen so töricht ist, in seinem Teich zu baden, dann ...“ Die Alte schüttelte Unheil verkündend den Kopf.
„Dann ertrinkt es?“, fragte Grace. Sie war ganz fasziniert von diesem Beweis uralten Aberglaubens.
„Schlimmer! Dann raubt er ihm seine Tugend.“
Grace lachte.
„Junge Dame, Sie glauben mir nicht, aber es ist wahr. Sehen Sie sich nur die Tickel-Mädchen an. Ihre Mutter - das arme, dumme Geschöpf - war Kürschnerin aus der Nähe von Ludlow und wusste es nicht besser. Sie ließ die Mädchen in Gwydions Teich planschen, als sie noch klein waren, und was ist aus ihnen geworden? Sie besitzen keinen Funken Moral mehr! Das ist natürlich nicht ihre Schuld, aber trotzdem dienen sie als warnendes Beispiel für alle Frauen, o ja.“
„Nun, vielen Dank, dass Sie mich alarmiert haben.“ Grace wandte sich erneut zum Gehen.
Wieder hielt die Alte sie zurück. „Sie jedoch müssen zum Teich gehen und sich etwas von dem Wasser holen.“
„Muss ich das? Warum?“
„Füllen Sie im Mondschein etwas Teichwasser in eine Flasche ab und waschen Sie dann morgens und abends Ihr Gesicht damit. Die Sommersprossen werden verschwinden, so sicher wie ich Agnes Wigmore heiße!“ Sie beschrieb ihr ausführlich den Weg zum Teich, erst danach ließ sie Grace’ Hand los.
Grace dankte ihr für den Speck und den guten Rat und machte sich wieder auf den Weg. Sie ritt in Richtung Dorf, und da sie es nicht eilig hatte, hielt sie bei jedem Haus an, das Granny Wigmore ihr genannt hatte, bei den Finns, den Taskers und den Tickels.
Überall wurde sie auf das Wärmste willkommen geheißen, aber der Zustand der jeweiligen Häuser entsetzte sie. Die Leute hier lebten in bitterer Armut. Mrs Finn hauste mit fünf kleinen Kindern in einer heruntergekommenen Bretterbude. Sie wusch Wäsche für andere Leute, dennoch galt ihr ältester Sohn Billy als der Haupternährer der Familie. Großer Gott, und der Junge war noch nicht einmal zehn.
Die Tickel-Mädchen wohnten mit ihrer Mutter und ihrer bettlägerigen Großmutter zusammen. Auch sie nahmen Wäsche an, und die Mädchen gingen putzen, wo immer sie Arbeit fanden.
Die Taskers waren offenbar einmal wohlhabend gewesen, waren aber, wie Grace erfuhr, ungerechterweise von ihrem Bauernhof vertrieben worden, weil sie zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren mit der Pacht säumig waren. Jetzt waren sie in eine Hütte am Waldrand gezogen und versuchten, so gut es ging über die Runden zu kommen.
Die Kleidung der Leute war abgetragen und geflickt; in keinem der Häuser konnte Grace irgendwelche Lebensmittel entdecken. Man hieß sie herzlich willkommen, bot ihr aber nur Wasser an. Die Hütten waren nur spärlich möbliert, dafür aber sauber und ordentlich. Und wohin sie auch sah, waren Reparaturarbeiten dringend nötig - undichte Dächer, löchrige Fußböden und feuchte Wände. Wer um alles in der Welt war hier der Grundherr? Grace befürchtete es zu wissen.
Melly hatte gesagt, er wäre reich.
Aber auf wessen Kosten?
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Grace das Dorf erreichte, aber es gab vieles, worüber sie nachsinnen musste. Im Dorfladen erstand sie mehrere warme, ofenfrische Brotlaibe, Kaffee und Tee. Sie gab beim Ladenbesitzer eine Bestellung auf, die ihn dazu brachte, über das ganze Gesicht zu strahlen und sich unter Verbeugungen von ihr zu verabschieden, als wäre sie eine Fürstin. Grace dachte an die leeren Vorratskammern in den Häusern, in denen sie vorhin gewesen war, und schwor sich, etwas zu unternehmen.
7. Kapitel
Die Stimme des Gewissens ist so zart, dass man sie mühelos zu unterdrücken vermag; gleichzeitig spricht sie aber auch so deutlich, dass man sie unmöglich missverstehen kann.
Madame de Staël
Als Grace die Küche von Wolfestone Castle betrat, brannte dort ein lebhaftes Feuer und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee hing in der Luft. Der Mann hatte tatsächlich schnell gehandelt. Erst am vergangenen Abend hatte er gesagt, er würde für Hilfskräfte sorgen, und da waren
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