Ein verführerischer Akt
Haar, zog die verbliebenen Nadeln heraus und steckte sie in ihr Retikül, zupfte Grashalme und Schottersteinchen aus den Locken, um ihre Frisur so gut es ging in Ordnung zu bringen.
»Wenn wir Glück haben«, meinte er, »merken die Ganoven zunächst nichts und denken dann, wir seien gleich bei unserer Ankunft an der nächsten Station ausgestiegen. Sie könnten tagelang suchen, ehe sie ihren Fehler bemerken. Wenn überhaupt …«
Sie bedachte ihn mit einem äußerst zurückhaltenden Lächeln. »Ein genialer Plan.«
Er nickte und erwiderte ganz ernst: »Ich weiß.«
Sie runzelte angesichts von so viel Arroganz die Stirn.
»He, Sie da!«
Beide erstarrten. Ein Gepäckträger starrte sie vom verlassenen Bahnsteig aus an.
»Sie dürfen nicht auf die Gleise«, rief der Mann. »Sie könnten überfahren werden.«
Ehe Julian etwas erwidern konnte, rief sie: »Ach, Sir, ich bin noch nie mit einem Zug gefahren und kenne mich auf Bahnhöfen nicht aus. Der Herr hier hat mich nur zurückgehalten, als ich in letzter Minute von der falschen Seite in den Zug einsteigen wollte.«
Der Gepäckträger grummelte und winkte sie zu sich herüber. Nachdem sie die Gleise überquert hatten, streckte er ihr die Hand entgegen, um ihr auf den Bahnsteig zu helfen, denn allein hätte sie das mit ihren hinderlichen Röcken nicht geschafft. Julian stellte sich hinter sie und schob von unten nach. Sie kniff den Mund zusammen, als sie seine Hände auf ihrem Hinterteil spürte, und konnte sich der intimen Berührung gar nicht schnell genug entziehen. Hatte er bei dem Manöver etwa auch einen Blick unter ihre Röcke erhascht?
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, sobald sie sicher auf dem Bahnsteig angekommen war. Er selbst stemmte sich mit lässiger Eleganz hoch, wobei sich die Ärmel seiner Jacke um die muskulösen Arme spannten. Betrübt stellte sie fest, dass körperlicher Einsatz für ihn keine Herausforderung darstellte – und lief puterrot an bei seinem prüfenden Blick. Sie hatte das Gefühl, er könne ihre Gedanken lesen. Schnell wandte sie sich ab.
»Kaufen Sie sich jetzt Ihre Rückfahrkarte?«, fragte sie.
Er runzelte die Stirn. »Sie werden von zwei Männern verfolgt, Rebecca. Sie erwarten doch nicht etwa von mir, dass ich Sie hier mutterseelenallein zurücklasse?«
»Ich komme schon zurecht. Ich nehme den nächsten Zug und fahre zu meiner Tante.«
Er lachte auf. »Seien Sie bitte nicht so naiv. Es war bestimmt ein Leichtes herauszufinden, wohin Sie reisen. Dienstboten reden.«
»Unsere Dienstboten nicht!«
»Ihre Dienstboten haben mir erzählt, dass Sie heute zu dem Empfang in Banstead House gehen würden.«
»Sie sind ein Earl. Natürlich haben sie da das Gefühl, sie müssten Ihnen gegenüber Gehorsam zeigen – und das haben Sie dann skrupellos ausgenutzt. Davon abgesehen darf ich nicht in Gesellschaft eines Mannes reisen. Wenn das zufällig ein Bekannter sieht! »
Statt einer Antwort schob er seine Hand vor und legte die Finger auf ihr Mieder, genau an die Stelle, wo der Edelstein zwischen ihren Brüsten ruhte. Sie gab einen entrüsteten Laut von sich, doch wie zum Trotz beschleunigte sich ihr Atem, und ihr Busen hob und senkte sich heftig unter seinen Fingern. Ein seltsames, fast schon schmerzhaftes Gefühl erfasste sie.
»Und was hatten Sie mit dem Diamanten vor?«, fragte er leise.
Sie schlug seine Hand weg und lächelte. »Lassen Sie das meine Sorge sein, Mylord.«
Er schaute nach hinten, aber der Bahnsteig war immer noch leer. Seine Stimme wurde ganz sanft. »Von jetzt an können Sie mich nicht mehr so nennen. Ich heiße Julian, Rebecca.«
Sein Tonfall war vertraulich – viel zu vertraulich, genau wie seine Berührung. Er hatte sie aus einer schwierigen Situation befreit, nur um sie in eine Lage zu bringen, die nicht weniger problematisch war.
»Die Sonne geht bald unter, und wir können nicht im Freien bleiben«, fuhr er fort. »Falls die beiden Männer doch vorzeitig unser Verschwinden bemerken und ahnen, wo sie nach uns suchen müssen …«
Konnte sie ihm ihr Vertrauen schenken? Sie wusste immer noch nichts über ihn außer den Dingen, die man so redete – und dabei ging es lediglich um irgendeinen Skandal, über den sie nichts Genaueres wusste. Hinzu kam, dass er sich von der Gesellschaft weitgehend fernhielt. Rebecca fragte sich, ob er etwas zu verbergen hatte. Und auch dass er ihr gefolgt war, beunruhigte sie nach wie vor, wobei ihr im Moment trotzdem keine andere Wahl blieb, als ihm zu
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