Ein verfuehrerischer Tanz
Vielleicht kann ich es ihr noch schonend beibringen.
»Oh mein Gott.« Lily schlug die Hände vors Gesicht. »Leo ist tot.«
»Ich wusste es«, sagte Lily und starrte mit leerem Blick auf ihre gefalteten Hände. Sie saßen im Salon. Eine unangerührte Tasse Tee mit einem Schuss Brandy stand vor ihr auf dem Tisch. »Irgendwie wusste ich es schon, bevor ihr kamt. Ich bin früh schlafen gegangen, weil ich sehr müde war. Kaum eine Stunde später bin ich aus einem Albtraum hochgeschreckt und konnte seitdem nicht mehr einschlafen. Ich wusste instinktiv, dass er tot ist.«
Amelia rückte mit ihrem Stuhl näher an ihre Freundin. »Glaub mir, es tut mir aufrichtig leid.« Sie fühlte sich hilflos. Hoffentlich spendeten ihre mitfühlenden Worte ein wenig Trost.
»Ich kann es nur begreifen, weil ich es tief in meinem Herzen gespürt habe. Die ganze Nacht habe ich mich im Bett gewälzt, die grässliche Ahnung hat mich einfach nicht losgelassen. Wir wussten immer, wann der andere in Gefahr schwebte. Vermutlich, weil wir Zwillinge sind. Leo und ich standen uns sehr nahe. Als ich krank war, nahm er die Postkutsche und fuhr die weite Strecke von Oxford hierher, obwohl ihm niemand geschrieben hatte. Ich weiß nicht, wie ich …« Lily ließ ihren Kopf auf die gefalteten Hände sinken. »Ich habe keine Ahnung, wie es ohne ihn weitergehen soll. Ich hab doch sonst niemanden.«
Ihre schmalen Schultern zuckten von den haltlosen Schluchzern. Amelia strich ihr sanft die langen schwarzbraunen Haare nach hinten. Kein Außenstehender wäre darauf gekommen, dass Leo ihr Zwillingsbruder war. Er hatte aschblondes Haar, goldbraune Haut und sprühte vor Spontanität und Energie. Lily hatte einen hellen Teint und dunkle, fast schwarze Haare, anders als ihr Bruder war sie ernst und nachdenklich. Der Mond um Leos Sonne. Amelia wusste vom Hörensagen, dass die Geburt der Zwillinge für die Eltern ein mittlerer Skandal gewesen war, weil niemand so recht glaubte, dass Leo und Lily denselben Vater hatten. Die Hebamme konnte jedoch allen glaubhaft versichern, dass sie nacheinander beide Kinder auf die Welt geholt hatte.
Amelia drückte leicht die Schultern ihrer Freundin, worauf Lily den Kopf hob.
»Glaub mir, ich kann es genauso wenig fassen wie du, dass Leo von uns gegangen ist. Er … er sprühte immer vor Leben. Sein Tod ist für uns alle ein großer Verlust.« Sie streichelte Lily begütigend übers Haar. »Trotzdem brauchst du dir keine Gedanken um deine Zukunft zu machen. Alle, die Leo gekannt und geschätzt haben, sind gern bereit, dir in jeder nur erdenklichen Weise zu helfen. Im Nebenzimmer sitzen drei überaus einflussreiche englische Gentlemen, die für dich durch den Ärmelkanal schwimmen würden – du brauchst nur einmal mit den Fingern zu schnippen.«
Um Lilys Mundwinkel zuckte es.
»Ich bin sicher, Mr. Bellamy hat die beiden Herren mitgebracht. Manchmal denke ich, der Mann erdrückt mich mit seinen guten Absichten.«
Anscheinend hatte sie Amelias skeptischen Blick aufgefangen.
»Oh, täusch dich da mal nicht in ihm«, wiegelte Lily ab. »Julian ist ein begnadeter Schauspieler. Am liebsten spielt er den unverbesserlichen Draufgänger. Im Übrigen auch sehr überzeugend. Aber er war Leo immer ein guter, verlässlicher Freund und fühlt sich zweifellos verpflichtet, mich zu beschützen wie ein Bruder.«
»Bist du sicher, dass sein Interesse bloß freundschaftlich ist?«, bohrte Amelia nach. In der Kutsche hatte Mr. Bellamy bei ihr einen anderen Eindruck hinterlassen.
»Oh ja«, beteuerte Lily. »Da bin ich mir ganz sicher.«
»Was hältst du dann davon, dass die drei auf dem Weg hierher lang und breit darüber debattiert haben, wer … wer von ihnen der Glückliche sein und dich heiraten wird?«
»Heiraten? Mich? Ich wollte eigentlich nie heiraten.«
»Ich hab ihnen nahegelegt, dass man solche Entscheidungen nicht übers Knie bricht. Und dass du Zeit für deine Trauer brauchst. Keine Ahnung, ob ich mit meiner Argumentation erfolgreich war.«
Genauer gesagt hatte sie keine Ahnung, ob es Mr. Bellamy gelungen war, Morland zu überzeugen. Sie hoffte nicht. Mit Eifersucht hatte das nichts zu tun, obwohl sie den Duke optisch anziehend fand. Aber Attraktivität war eine Sache, Charakter eine andere. Und Morland hatte einen schlechten Charakter. Heute Abend hatte sie genug aufgeschnappt, um das beurteilen zu können. Einen solchen Mann hätte sie nicht einmal ihrer ärgsten Feindin gewünscht.
»Ich glaub es nicht«, murmelte Lily
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