Ein verhängnisvolles Versprechen
April wurde Livingston zu einer Schneekugel, in der es College- und Universitäts-Zulassungen schneite. Glaubte man den Eltern, dann stand alles auf dem Spiel. Diese Wochen mit den dicken und dünnen Umschlägen in den Briefkästen entschieden darüber, wie glücklich und erfolgreich ihre Nachkommen für den Rest ihres Lebens sein würden.
»Ted steht in Penn State auf der Warteliste, Lehigh hat ihn aber schon angenommen«, sagte die eine.
»Ist das nicht unglaublich, dass Chip Thompson die Zulassung für Penn bekommen hat?«
»Sein Vater.«
»Was? Ach so, na klar. Der hat da seinen Abschluss gemacht, stimmt’s?«
»Ja, und er hat ihnen eine Viertelmillion Dollar gespendet.«
»Das hätte ich mir auch denken können. Chips Ergebnisse in den Zulassungstests waren furchtbar.«
»Ich habe gehört, sie hätten einen Profi bezahlt, der für ihn die Essays geschrieben hat.«
»Das hätten wir für Cole auch machen sollen.«
So ging das die ganze Zeit. Endlos.
Myron nickte Maxine zu. Maxine Chang empfing ihn normalerweise mit einem breiten Lächeln. Heute nicht. Sie rief: »Roger!«
Roger Chang kam aus dem Hinterzimmer. »Hey, Myron.«
»Was geht, Roger?«
»Sie wollten die Hemden diesmal im Karton, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Ich bin gleich wieder da.«
»Maxine«, sagte eine der Frauen, »hat Roger schon eine Antwort vom College?«
Maxine blickte kaum auf. »Er ist in Rutgers angenommen worden«, sagte sie. »Und steht bei ein paar anderen auf der Warteliste.«
»Toll. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke.« Sie wirkte aber nicht sonderlich begeistert.
»Maxine, ist Roger dann nicht der Erste aus Ihrer Familie, der auf die Universität geht?«, fragte die andere Frau. Herablassender hätte sie nicht mal einem Hund gegenüber klingen können, den sie gerade streichelte. »Das muss doch wunderbar für Sie alle sein.«
Maxine schrieb die Rechnung.
»Wo steht er auf der Warteliste?«
»Princeton und Duke.«
Als er den Namen seiner Alma Mater hörte, musste Myron wieder an Aimee denken. Dann fiel ihm Larry und sein unheimlicher Planeten-Monolog wieder ein. Myron hatte keine Angst vor bösen Omen oder so etwas, aber er wollte das Schicksal auch nicht unbedingt herausfordern. Er überlegte, ob er noch einmal versuchen sollte, Aimee auf dem Handy zu erreichen, aber was half ihm das? Er dachte an die letzte Nacht, ging sie in Gedanken noch einmal durch und fragte sich, was er hätte anders machen können.
Roger – Myron hatte vollkommen vergessen, dass der Junge schon im letzten High-School-Jahr war – kam aus dem Hinterzimmer zurück und reichte Myron den Karton mit seinen Hemden. Myron nahm ihn, sagte, er solle alles auf die Rechnung setzen, und ging zur Tür. Ein bisschen Zeit hatte er noch, bis seine Maschine ging.
Also fuhr er zu Brendas Grab.
Vom Friedhof aus konnte man immer noch auf einen Schulhof herunterschauen. Darüber kam er immer noch nicht hinweg. Die Sonne strahlte. Das tat sie fast immer, wenn er hier war, als wollte sie ihn in seiner Trauer verspotten. Er war allein. Kein anderer Besucher war zu sehen. Etwas weiter hinten hoben ein paar Totengräber mit einem Schaufelbagger ein Grab aus. Myron blieb still stehen. Er hob den Kopf ein wenig und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Er konnte die Sonnenstrahlen im Gesicht noch spüren. Brenda konnte das natürlich nicht mehr. Und sie würde es nie mehr können.
Ein banaler Gedanke, aber was sollte man machen?
Brenda Slaughter war erst 26 gewesen, als sie starb. Wenn sie überlebt hätte, wäre sie in zwei Wochen 34 geworden. Myron dachte darüber nach, wo sie jetzt wohl wäre, wenn er sein Versprechen gehalten hätte. Er überlegte, ob sie mit ihm zusammen wäre.
Als sie starb, absolvierte Brenda gerade ihre Assistenzzeit als Ärztin an der Kinderklinik. Sie war einen Meter zweiundneunzig groß und eine atemberaubend aussehende Afro-Amerikanerin. Sie hatte auch als Model gearbeitet. Sie stand kurz davor, Profi-Basketballerin und das Gesicht der neuen Frauen-Profiliga zu werden. Dann hatte es Drohungen gegeben. Und der Eigentümer der Liga hatte Myron den Auftrag gegeben, Brenda zu schützen.
Tolle Arbeit, All-Star.
Er ballte die Fäuste und starrte auf das Grab hinunter. Er sprach nie mit ihr, wenn er herkam. Er setzte sich nicht, versuchte nicht zu meditieren, nichts dergleichen. Er dachte nicht an das Gute, ihr Lachen, ihre Schönheit oder ihre außergewöhnliche Ausstrahlung. Autos zischten vorbei. Der Schulhof war still.
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