Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Ordnung brachte, dafür sorgte, dass ihre Eltern es verstanden. Natürlich hätte sie es ihnen selbst erklärt, wenn das möglich gewesen wäre. Aber sie wusste, dass Papa dann verhindert hätte, dass sie ging.
Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Und eine Wahl zu haben, selbst entscheiden zu können, das war etwas, nach dem es sie verlangte, das sie brauchte. Das war, hatte Signor Westerman ihr erklärt, ihr Menschenrecht.
»Haben Sie vielen Dank«, sagte sie in beinahe akzentfreiem Englisch zu dem Fahrer. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Er starrte sie an. »Gern geschehen«, gab er lachend zurück, schüttelte den Kopf und fuhr davon.
Flavia warf sicherheitshalber noch einmal einen Blick auf den Zettel mit der Adresse. Ja, das hier war die Thurlow Park Road, und die Hausnummer stimmte auch. Sie blickte erneut hoch zu dem Haus. Es sah so vornehm aus. Sie ging die Treppe hinauf. Was war, wenn Signor Westerman ein Fehler unterlaufen war? Wenn Beatrice Westerman gar nicht mehr hier wohnte?
Nur Mut. Sie drückte die Schultern durch und klingelte.
Bei so einem Palast hätte sie erwartet, dass ein Dienstbote öffnete, aber die Frau, die an die Tür kam, sah nicht aus wie eine Bedienstete. Sie war groß und dünn, hatte blondes, gekräuseltes Haar und trug eine Brille mit einem metallenen Rahmen. Sie sah deutlich älter aus als Signor Westerman und wirkte äußerst konsterniert, als sie Flavia mit ihrem Koffer vor der Tür stehen sah.
»Hallo«, sagte sie höflich. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Miss Beatrice Westerman?«, fragte Flavia in ihrem besten Englisch. Nase und Kinn der Frau sahen denen von Signor Westerman eindeutig ähnlich.
Die Frau nickte. »Das bin ich.«
»Ich habe einen Brief von Ihrem Bruder Edward.« Flavia zog den dicken Umschlag aus dem Reißverschlussfach auf der Außenseite ihrer Reisetasche. Er war ein wenig verknittert und feucht von der Reise, aber ansonsten unversehrt. »Ich habe auch noch ein Päckchen in meinem Koffer«, fügte sie sicherheitshalber noch hinzu. »Gedichte von ihm.«
»Von Edward?« Beatrices Augen leuchteten auf. Sie nahm den Umschlag und drehte ihn in ihren Händen. »Sie haben die ganze weite Reise von Sizilien hierher gemacht?«, fragte sie Flavia.
»Ja. Mit dem Zug«, bekräftigte Flavia.
Beatrice Westerman legte den Kopf zur Seite wie ein Vogel. »Tatsächlich? Verstehen Sie, was ich zu Ihnen sage?«
»Ja.« Flavia nickte. »Ich spreche ein wenig Englisch. Ihr Bruder …« – sie zögerte – »… hat es mich gelehrt.«
Beatrice lächelte. »Ich verstehe.« Sie wirkte allerdings immer noch verwirrt. Flavia dachte, dass wahrscheinlich nicht jeden Tag ein merkwürdiges ausländisches Mädchen auf ihrer Türschwelle auftauchte und ihr eine Nachricht von ihrem Bruder brachte, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte.
Am liebsten hätte Flavia ihr gesagt, sie solle den Brief gleich lesen, denn sie wünschte sich so sehr, ins Haus gelassen zu werden, wo es vermutlich warm und hoffentlich gemütlich sein würde, aber es wäre unhöflich gewesen, etwas davon zu sagen, daher trat sie auf der Türschwelle von einem Fuß auf den anderen, während Beatrice sie anstarrte und den Brief immer noch hin- und herwendete.
»Meine Familie arbeitet für Ihren Bruder«, erklärte sie. »In Cetaria.«
»Ah ja.« Beatrice schien sich wieder zu fangen. »Kommen Sie doch herein. Es tut mir so leid. Kommen Sie herein, und wir trinken Tee.« Sie bedeutete Flavia einzutreten. »Oder Kaffee«, setzte sie hinzu. »Obwohl ich leider nur Pulverkaffee habe.«
Flavia hatte keine Ahnung, was Pulverkaffee war, aber es war ihr auch egal. Sie war im Warmen.
Bea Westerman kochte Tee und brachte kleine Gurkensandwiches ohne Rinde, schlaffe Salatherzen und bleiche Tomaten. Mit einem kleinen Schlüssel öffnete sie eine Büchse und nahm einen Würfel rosa Schinken heraus, den sie dann mit einem scharfen Messer in dünne Scheiben schnitt. Dazu eine Dose mit rotem Lachs. Roter Lachs? Und äußerst künstlich aussehende Kuchenstücke mit einer steifen Creme. Sie richtete alles auf einem kleinen Beistelltisch an, indem sie es auf eine Spitzendecke legte.
»Es ist nicht viel«, sagte Bea Westerman entschuldigend. »Wir haben jetzt natürlich mehr Essen in Dosen, aber nicht so viel Tee, wie mir lieb wäre.« Betrübt schüttelte sie den Kopf. »Die Rationierung, wissen Sie.«
Flavia war erstaunt. Natürlich wusste sie, was Rationierung bedeutete. Sie wusste, was es hieß, nichts zu essen zu
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