Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
erstickend.
Flavia wurde nervös. Hier lächelte niemand. Die meisten sahen nicht einmal in ihre Richtung. Aber wer hätte ihnen auch ihre unfreundlichen Mienen verübeln können? Schließlich war es neblig und kalt und feucht, und man konnte kaum so weit sehen, wie ein Feld lang war. Durch die undichten Sohlen von Flavias dünnen Schuhen drang die Nässe.
»Nimm dir am Bahnhof ein schwarzes Taxi«, hatte Signor Westerman gesagt. »Keine Extratouren, mein Mädchen, hast du verstanden?«
Sie hatte genickt.
»Gib dem Fahrer Beatrices Adresse. Und dann überreichst du Bea diesen Brief.« Er hatte ihr einen dicken weißen Umschlag in die Hand gedrückt, zusammen mit dem Manuskript, das seine Gedichte enthielt. Sie hatte versprochen, es ebenfalls seiner Schwester zu geben. Auf dem Brief stand in schwarzer, klarer Schrift die Adresse seiner Schwester geschrieben.
» Si , das werde ich«, hatte Flavia gesagt, sich aber vorgenommen, es auf ihre Art zu tun. Dies war schließlich ihr Abenteuer.
Aber Signor Westerman hatte recht gehabt. London war zu viel für sie, besonders bei dieser Kälte und diesem Nebel. Sie war erschöpft von der Reise, ihre Finger waren schon ganz weiß und steif von der Kälte, und ihre Augen brannten. Sie gab ein Selbstvertrauen vor, das sie nicht besaß, und hob den Arm, um ein schwarzes Taxi heranzuwinken. Zu ihrem Erstaunen hielt es an. Flavia zeigte dem Fahrer die Adresse.
Dann saß sie auf der Rückbank des Taxis, drückte ihre Tasche fest an die Brust und atmete erleichtert aus. Jetzt war sie in England. Dennoch hatte auf gewisse Weise ihre Reise gerade erst begonnen. Durch das Fenster blickte sie hinaus ins Grau. So viele Gebäude waren baufällig oder lagen in Trümmern. Die Bombenangriffe, vermutete sie. An anderen Stellen wurden neue Häuser gebaut, und sie sah, dass die Silhouette der Stadt sich veränderte. Sie hatte gewusst, dass London im Krieg gelitten hatte. Aber das Ausmaß der Zerstörung schockierte sie.
Sie sah hell erleuchtete Geschäfte, Cafés, Friseursalons und große Kinos; sie alle sahen ganz anders aus, als sie es von zu Hause gewohnt war. Riesige Neonreklamen strahlten hell aus dem Dunkel hervor. Sie kniff die Augen zusammen, um sie zu lesen; jetzt musste sie ihr Englisch üben. Jacob’s Cracker, Swallow-Regenmäntel, Brylcreem für Ihr Haar. Du lieber Gott, wie fremd hier alles war. Sie spürte einen Anflug von Aufregung. Das war Freiheit. Dies war eine andere Welt.
Sie kamen nur langsam vorwärts. Die Straßen waren mit schwarzen Autos, roten Bussen, Straßenbahnen und sogar Pferdekarren verstopft, die Gehwege mit Menschenmassen. Sie sah Männer mit Hüten und in Regenmänteln, über denen sie Gürtel trugen, und schick aussehende Frauen in Wollmänteln, deren Schals ab und zu einen Farbfleck in dem grauen Einerlei bildeten. Ein Mann mit Helm und weißer Armbinde – ein Polizist, wie ihr klar wurde – streckte eine Hand in die Höhe und hielt ihr Taxi an. Auf sein Zeichen hin strömten Männer und Frauen über die Straße, die alle so aussahen, als befänden sie sich auf einer wichtigen Mission. Die Stadt brodelte vor Aktivität. Und doch schien der feuchte Nebel, der alles umgab, ihre Stimmen zu dämpfen. London. Es war neu, und sie fürchtete sich zu Tode. Aber die Muttergottes möge ihr beistehen, wie sehr hatte sie sich das gewünscht!
Sie hielten vor einem prachtvollen zweistöckigen Haus in einer eleganten Straße, in der große, mit Erkern geschmückte Backsteingebäude standen. Das musste West Dulwich sein. Staunend blickte Flavia an dem Haus hoch und dann die Straße entlang. Der Nebel schien sich zu lichten, und Flavia erkannte Bäume. Von ihren Blättern tropfte Regenwasser in die Pfützen auf dem Pflaster. Wenn erst die Sonne schien, würde es hier richtig schön sein.
»Kommen Sie schon, Missy.« Der Taxifahrer schien keine Zeit zu haben, er wollte wieder los. Warum hatten es hier alle nur so eilig?
Sie kramte in ihrer Börse nach Geld. Er hatte ihre Tasche auf das nasse Straßenpflaster fallen lassen. Auf Sizilien, dachte sie, würde der Fahrer einem die Tasche wenigstens bis zur Tür tragen. Aber du bist jetzt nicht auf Sizilien, schalt sie sich. Von dort war sie ja gerade geflüchtet. Weißt du noch? Wieder dachte sie mit schlechtem Gewissen an Mama und Papa. Würden sie wütend sein, besorgt? Sie hatte einen Zettel zurückgelassen, auf dem sie ihnen alles erklärte, aber nur kurz. Sie verließ sich darauf, dass Signor Westerman die Sache in
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