Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
verschwunden. Ettore Sciarra. Ein Mann, der die Finger in vielen zweifelhaften Geschäften hatte. Wer weiß, wie viele Leute einen Grund hatten, ihn umzubringen?« Er stand jetzt sehr nahe bei ihr. Als er sich noch näher zu ihr beugte, wusste sie mit absoluter Gewissheit, dass seine Lippen die ihren berühren würden, und sie spürte den süßen Schauer der Vorfreude … Doch dann fühlte sie, wie auch die Erde unter ihr erschauerte und Vibrationen das Pflaster des baglio durchliefen.
Sie wichen beide gleichzeitig einen Schritt zurück. In Toninos Atelier hörte sie Glas klimpern, als schüttle eine Riesenhand die Regale. Ungläubig sah sie zu, wie sich in der Steinmauer neben ihnen ein Riss bildete.
Tonino stand reglos da. Er schien auf etwas zu lauschen, auf etwas zu warten. In der Ferne wogte das Meer noch heftig, aber der Wind ließ langsam nach. Der Sturm hatte seine Richtung geändert und bewegte sich jetzt die Küste entlang. Noch einmal bebte die Erde, als recke sie sich nach einem langen Schlaf, und dann war alles ruhig und still. Irgendwo im Dorf läutete eine Kirchenglocke.
Tonino entspannte sich sichtlich. Er nahm ihren Arm. »Mach die keine Sorgen«, sagte er. »Geh jetzt zurück in die Villa Sirena.«
Tess konnte ihre bittere Enttäuschung kaum verbergen. »Was war das?«, fragte sie. »War das der Sturm?«
Er schüttelte den Kopf. »Ein Erdstoß«, erklärte er. »Das passiert hier öfter. Aber jetzt ist es vorbei, glaube ich. Geh.«
Die Treppe, die hinauf zur Villa führte, war ihr noch nie so steil vorgekommen.
Oben drehte Tess sich um und sah auf die Felsen, il faraglione, und die einsamen Fischerboote im Hafen hinunter, auf die halb verfallene, unbenutzte Tunfischfabrik. Konnte man einen Ort lieben und zugleich fürchten? War es möglich, dass man sich fast gegen seinen Willen zu einem Ort hingezogen fühlte? Wenn man das konnte, wenn das möglich war, dann empfand sie so.
62. Kapitel
U ngefähr ein halbes Jahr nach diesem Besuch schrieb Peter ihr einen Brief. Flavia betrachtete die ordentliche Handschrift auf dem blauen Umschlag und wusste aus irgendeinem Grund sofort, dass es seine war. Sie erinnerte sie an die vielen Briefe, die sie nicht bekommen hatte. Was hatte ihr Vater wohl mit ihnen gemacht? Wahrscheinlich hatte er sie in die Kohlenpfanne geworfen. Aber zuerst hatte er sie gelesen. Woher hätte er sonst gewusst, dass Peter nach Sizilien kommen wollte, um sie zu holen? Und da Papa kein Englisch sprach, musste er sie jemandem gezeigt haben, jemandem, der ihm Peters Worte übersetzte, Peters Liebesbriefe an Flavia.
Sogar jetzt noch wurde ihr vor Zorn und Scham ganz heiß. Wer hatte sie sonst noch gelesen? Enzo? Sie dachte an Enzos dunkles, hartes Gesicht und erschauerte. Hätte sie Tess vor den Sciarras warnen sollen?
Dies hier war allerdings kein Liebesbrief, und darüber war Flavia froh. Er begann mit »meine liebe Flavia« und endete mit »Dein Peter«. Obwohl er das natürlich nicht war. Dazwischen erkundigte er sich nach ihrer Gesundheit und dem Café, erzählte ihr, wo er wohnte, und zwar allein, dass er eine Stelle als Versicherungsvertreter gefunden hatte und seinen Sohn einmal in der Woche sah.
Einmal in der Woche, am Sonntag … Das war nicht viel für einen Mann, der so stolz auf seinen Jungen gewesen war. Sie erinnerte sich: Ich habe einen Sohn, Flavia. Sein Name ist Daniel.
Er hoffe, schieb Peter, dass sie Zeit finden werde, ihm eines Tages zu schreiben, als Freundin. Und wenn sie je etwas bräuchte … Diesen Satz hatte er nicht beendet.
Als Freundin … Als Flavia nach England kam, hätte sie nie gedacht, dass sie einmal Freunde sein würden. Ein Liebespaar, ja. Aber Freunde?
Trotzdem rührte es sie, dass ihm offensichtlich so viel an ihr lag, dass er ihr seine Freundschaft anbot. Daher steckte sie den Brief wieder in den blauen Umschlag und legte ihn im Schlafzimmer in die Schublade mit ihren Strümpfen.
Ein paar Wochen später, als am Sonntag der gewohnte Besuch bei Lennys Mutter fällig war, entschuldigte sie sich und blieb zu Hause. Am Nachmittag beantwortete sie Peters Brief. Sie berichtete ihm, wie sich das Azurro entwickelte und dass sich ihr Englisch verbesserte. Sie erzählte ihm von Pridehaven und erklärte ihm, dass Lenny ein netter Mann sei, einer der besten. »Auch ich«, schrieb sie ihm, »möchte, dass wir Freunde bleiben.«
Ihr Briefwechsel war unregelmäßig, aber Flavia bekam etwa vier oder fünf Briefe pro Jahr. Wenn er ein Problem hatte,
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