Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
Theke und durch die Hintertür. Die einzigen anderen Gäste standen auf und gingen. Ihnen war anscheinend gar nichts aufgefallen. Großartig. Tess hätte ebenso gut unsichtbar sein können.
»Sie glauben, die Geschichte zu kennen, Tess.« Giovannis Stimme klang wie ein leises Schnurren. »Aber fragen Sie Ihren guten Freund doch einmal, woher das viele Geld seiner Familie stammt. Woher der Sohn eines armen Fischers das Geld hatte, um sich Geschäftsräume im baglio von Cetaria zu kaufen.« Er stand auf, ohne ihr Handgelenk loszulassen, und packte mit der anderen Hand ihre Schulter.
»Was reden Sie da?« Tess versuchte, nicht eingeschüchtert zu klingen. Sie warf einen Blick aus dem Fenster, aber plötzlich war kein Mensch mehr zu sehen.
»Ist es nicht auffällig, dass seine Familie zur selben Zeit, als der tesoro verschwand, zu einer so großen Geldsumme gekommen ist?«, fragte Giovanni.
Tess fand, dass es jetzt reichte. »Nichts von alldem hat etwas mit mir zu tun«, entgegnete sie. »Und mit ihm habe ich auch nichts zu tun.« Noch während sie es aussprach, hatte sie das Gefühl, ihn zu verraten. Tonino.
»Ich will Ihnen noch etwas anderes sagen, Tess.« Giovannis Gesicht schwebte dicht vor ihrem. Zu nahe. »Es geht nicht nur um das Geld. Mein Großvater Ettore Sciarra ist auch kurz nach dem Krieg verschwunden. Einfach verschwunden. Zur selben Zeit wie der tesoro . Was sagen Sie dazu, eh? Eh?« Seine Stimme war lauter geworden.
Herrgott. Jetzt wurde es interessant. Behauptete Giovanni etwa, jemand hätte seinen Großvater ermordet? Jedenfalls sah er jetzt beinahe fanatisch aus, und er war ihr so nahe gerückt, dass sie seinen Schweiß roch und die roten Äderchen in seinen Augäpfeln sah. »Ich habe keine Ahnung«, gab sie mit fester Stimme zurück. Wenn es ihr gelang, ruhig zu bleiben, würde er sich vielleicht wieder beruhigen, und er würde ihr Handgelenk und ihre Schulter loslassen. Sie gab ihm noch eine Minute, und wenn er sie dann immer noch nicht losließ, würde sie ihn in die Kronjuwelen treten, und zwar fest.
»Aber ich will Ihnen sagen, wer es weiß«, knurrte er. »Ich werde Ihnen sagen, wer weiß, was mit ihm passiert ist.«
Irgendwie war Tess an diesem Punkt nicht erstaunt darüber, Tonino in den baglio schlendern zu sehen. Er sah aus, als hätte er keine Sorge auf der Welt, und sie sah, dass er einen Blick in Richtung Bar warf, wegschaute und wieder hinsah.
Mit drei Schritten stand er in der Tür. Noch drei, und er war an ihrer Seite. »Was in Gottes Namen treibst du da?« Er riss Giovannis Hände los.
»Ist dir auch nichts passiert?«, fragte er Tess.
Nein. Trotzdem wünschte sie sich, sie könnte sich in seine Arme stürzen und losheulen. Das wäre ein bisschen erbärmlich gewesen, daher nickte sie nur.
Er packte Giovanni an seinem kaum wahrnehmbar mit Lippenstift befleckten Kragen. »Halt dich von ihr fern«, knurrte er.
Einen Moment lang starrten die beiden sich an, und Tess spürte zum ersten Mal die ganze Macht hinter dieser Familienrivalität, sah und spürte den Hass, der so schwarz war wie das Land, aus dem sie stammten, so dunkel wie die Schatten von Sizilien. Giovanni ballte die Fäuste, und Tonino spannte sich an. Beide Männer waren bereit, sich zu schlagen. Doch stattdessen ließ Tonino den anderen los, und Giovanni taumelte leicht und ging dann zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich um.
»Kommen Sie bloß nicht auf die Idee, dass die Sache damit erledigt ist«, sagte er an Tess gerichtet. Dann sagte er zu Tonino noch ein paar Worte auf Sizilianisch.
Zur Antwort fluchte Tonino leise.
»Si, si, si. Scopilo …« Mit einem letzten Fluch und einer Handbewegung, die besorgniserregend nach einer durchgeschnittenen Kehle aussah, knallte Giovanni die Tür und marschierte davon.
Tess wandte sich Tonino zu. »Danke«, krächzte sie.
Er nickte steif. »Halt dich von ihm fern«, sagte er.
»Tonino …«
Aber er war bereits zur Tür gegangen und schon durch sie verschwunden.
Sie folgte ihm hinaus und eilte über den baglio . Während sie in dem Café gewesen war, hatte der Himmel eine bleigraue Farbe angenommen, die Dünung des Meeres wirkte wie wogender Stahl, und der Horizont war tiefviolett. Die Luft war so dick, dass sie sie als Druck auf Schultern und Kopf empfand. Es war anstrengend, sich zu bewegen, überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzen.
»Tonino«, rief sie ihm nach, doch er drehte sich nicht um und ging weiter.
In diesem Moment begann es zu regnen.
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