Ein verzauberter Sommer: Roman (German Edition)
und hatte sich umgesehen. Im baglio bot sich ihr das gewohnte Bild, obwohl Tonino nirgendwo zu sehen war. Unten in der Bucht waren nur ein paar Menschen unterwegs. Auf den Hügeln hinter dem Dorf, wo sie mit Tonino in dem Olivenhain spazieren gegangen war, meinte sie, etwas aufblitzen zu sehen, vielleicht die Sonne auf dem Objektiv einer Kamera. Aber …
Wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Trotzdem hatte sie, nachdem Giovanni sie in dem Café bedroht und Tonino sie aufgefordert hatte, nach Hause zu fahren, beschlossen, niemandem von Davids Geld zu erzählen. Weder Giovanni noch Tonino, nicht einmal Millie. Nicht, dass sie ihr und Pierro nicht vertraute; es irritierte sie nur, dass hier in Cetaria anscheinend jeder über die Angelegenheiten aller anderen Bescheid wusste.
»So ähnlich«, erklärte sie Millie daher, warf ihr ein geheimnisvolles Lächeln zu und nahm sich Bohnensalat und gamberoni .
Ihre Freundin wirkte ein wenig pikiert, aber glücklicherweise kehrte in diesem Moment Pierro an den Tisch zurück, und sie ließ das Thema fallen.
Während des Essens unterhielten sie sich über andere Dinge: über das Wetter in England, über die neuesten Nachrichten, über Tess’ Pläne für eine Pension und schließlich über Pierros Mutter, die vorhatte, zu ihnen zu ziehen, für immer.
»Ein Schicksal, schlimmer als der Tod«, erklärte Millie und verdrehte die Augen.
Tess erwähnte Giovanni nicht, denn sie hatte bereits beschlossen, auch darüber nichts verlauten zu lassen. Sie wollte den Zwischenfall nicht unnötig hochspielen, und sie wollte nicht noch mehr Probleme mit ihm bekommen. Inzwischen wusste sie, wie viel Schaden ein unbedachtes Wort anrichten konnte.
Um zwei Uhr mittags entschuldigte sich Pierro. Tess schickte sich ebenfalls zum Gehen an, aber Millie hielt sie noch eine Dreiviertelstunde fest, plauderte ziellos und lockte sie mit frischem Kaffee und dolce; dieses Mal waren es hausgemachte Mandelplätzchen. Man käme nie auf die Idee, dass sie ein Hotel zu leiten hat, dachte Tess.
»Ich muss wirklich los«, erklärte Tess schließlich. »Ich muss die Handwerker anrufen und die Sache in Gang bringen.« Außerdem wollte sie noch einmal tauchen. Nach dem Sturm und dem Erdstoß hatte das Meer frischer, leuchtender und einladender denn je ausgesehen. Wenn die Handwerker erst mit der Arbeit begonnen hatten, würde sie weniger Zeit zum Tauchen haben. Und außerdem brauchte sie keinen Vorwand. Tess wollte einfach ins Wasser.
Sie riss sich von Millie los, die ihr vorschlug, die Handwerker gleich anzurufen und dann pronto zu der Firma zu gehen. Ihre Freundin gab ihr sogar die Visitenkarte des Chefs und beschrieb ihr den Weg zum Büro, das nur ein paar Straßen weiter lag. »Sizilianer machen Geschäfte lieber von Angesicht zu Angesicht als übers Telefon«, erklärte sie ihr. »Wie sagt man noch? Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«
Aber nachdem Tess das Hotel verlassen hatte, änderte sie ihre Meinung und beschloss, zur Villa zurückzukehren und dann tauchen zu gehen. Sogar Handwerker hielten hier in Cetaria Siesta.
Der baglio jedenfalls lag verschlafen in der Hitze des frühen Nachmittags da. Die Geschäfte waren geschlossen, auch Toninos Atelier. Wieder spürte sie es, dieses Gefühl, beobachtet zu werden.
Das ist albern, sagte sie sich und ging die Treppe hoch. Sie schloss das Seitentor auf und ging an dem weißen Jasmin vorbei ums Haus und zur Vorderfront der Villa. In Gedanken war sie bereits mit dem geplanten Tauchgang beschäftigt.
Sie öffnete die Haustür, trat in die Eingangshalle und blieb abrupt stehen. Sie spitzte die Ohren. Hier stimmte etwas nicht. Sie runzelte die Stirn und ging dann in Richtung Küche. Plötzlich hörte sie ein Geräusch, es klang wie ein Bohrer, dann ein Hämmern, dann leises Stimmengemurmel. Jemand war hier in der Villa.
An der Küchentür blieb sie unschlüssig stehen. Sie sollte sofort gehen und Hilfe holen. Im baglio war allerdings niemand. Falls Tonino tatsächlich nicht da war, sollte sie vielleicht zum Hotel zurücklaufen und Pierro Bescheid sagen. Toninos Worte fielen ihr wieder ein. Ich kann nicht immer da sein, um dich zu beschütz en. Nein, sie konnte Tonino nicht fragen.
Außerdem befahl ihr ihr Instinkt, nicht zu gehen, sondern herauszufinden, wer hier war, was hier vor sich ging. Es war schließlich ihr Haus, verdammt. Sie betrat die Küche.
»Wer ist da?«, rief sie. Keine Antwort. »Wer ist da?«
64. Kapitel
E ssen
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