Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
zu mir war.
Eine halbe Stunde später gelingt es mir endlich, mich von Carly loszueisen. Irgendwie wollte sie mich gar nicht mehr gehen lassen. Sie hat versucht mich auszuquetschen, warum um alles in der Welt ich so früh am Sonntagmorgen bei ihr auf der Matte stand. Worauf ich mir schnell eine kleine Katastrophe auf der Arbeit aus den Fingern saugte, sodass sie rasch das Interesse verlor und mir stattdessen von ihrem unglaublichen Wochenende vorschwärmte und was sie an Weihnachten alles vorhabe. Wobei ich mich nicht wundern würde, wenn Carly die Feiertage allein bei ihren Eltern verbringt. Ihr perfektes Leben erscheint mir plötzlich nicht mehr besonders glaubwürdig.
Ich öffne die Tür des Cafés, und sofort sehe ich Joel, der mit einem Kaffee in der Hand an einem Tisch mitten im Raum sitzt und die Sonntagszeitung liest.
»Joel«, sage ich, als ich zu ihm an den Tisch trete. Er schaut nicht auf. Ich ziehe einen Stuhl heraus und setze mich. »Es tut mir so leid. Ich bin ein bisschen zwanghaft, was meinen Ordnungsfimmel betrifft. Meine Schwester nennt mich sogar Zwangsneurosen-Evie«, plappere ich ohne Punkt und Komma los, worauf Joel die Stirn runzelt.
»Warum das denn?«
»Warum was?«
»Warum nennt deine Schwester dich Zwangsneurosen-Evie? Du heißt doch nicht Evie«, erklärt Joel.
Mir bleibt vor Schreck fast das Herz stehen, und ich fürchte, mich spontan übergeben zu müssen.
»Och, pff«, sage ich und wedele wegwerfend mit den Händen, »du weißt schon, bloß so ein blöder Spitzname. Sie findet ihn urkomisch. Ist er aber nicht. Typisch große Schwester, findet sich furchtbar witzig.«
Joel lächelt matt und nippt an seinem Espresso.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragt er, und alle Vertrautheit zwischen uns ist verschwunden.
Ich schlucke beim Gedanken daran, dass Carly sicher bald ins Fitnessstudio geht, und stehe wieder auf. »Nein, danke«, sage ich mit einem übertrieben breiten aufgesetzten Lächeln. »Wollen wir nicht lieber gehen? Ich habe eine tolle Idee, was wir heute unternehmen könnten.«
Joel schaut auf, runzelt die Stirn und trinkt achselzuckend den restlichen Kaffee aus.
»Also gut, wie du willst«, sagt er, wirft etwas Geld auf den Tisch und geht an mir vorbei, die Hände tief in die Taschen vergraben und ohne mich anzuschauen.
Die Kluft zwischen uns ist so tief, man könnte darin locker einen Bus versenken, denke ich, als wir an der Bushaltestelle auf den Doppeldecker warten, der uns zur Waterloo Station bringt. Joel steht gerade mal einen halben Meter von mir weg, aber er starrt stur geradeaus und hat die Hände immer noch in die Taschen gestopft, als wolle er um jeden Preis verhindern, dass sie sich ungewollt irgendwohin verirren. Ich kann es ihm nicht verübeln. Denn zum einen ist es eiskalt, und zum anderen habe ich mich heute Morgen so unmöglich aufgeführt, dass ich mich wirklich ins Zeug legen muss, um sein verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Er hat mir meine an den Haaren herbeigezogenen Erklärungen nicht so einfach abgekauft wie Carly. Als durchschaute er mich irgendwie.
Wir springen in den Bus, und Joel setzt sich auf den Sitz vor mir.
»Und, wohin soll’s denn gehen?«, fragt er, nachdem er sich mit wenig begeisterter Miene zu mir umgedreht hat. Ich schlucke und will unbedingt sein Wohlwollen zurückgewinnen. Ich kann es kaum ertragen, dass er so abweisend ist. Nicht, nachdem wir uns schon so nahe waren.
»Öhm, na ja, ich dachte mir, wahrscheinlich hast du bisher nicht viel von London gesehen, und da habe ich mir überlegt, das könnte man auf ganz wunderbare Art und Weise ändern. Vor allem an so einem Tag.« Ich schaue aus dem Fenster, und genau in diesem Augenblick bricht ein gleißend heller Sonnenstrahl durch die Wolken. Rasch krame ich in meiner Handtasche und ziehe zwei Karten hervor, die ich ihm etwas schüchtern zeige. »Wir fahren mit dem London Eye!«
Er nimmt die Karten und betrachtet sie, und endlich breitet sich auf seinem Gesicht das lang ersehnte Lächeln aus.
»Ehrlich? Das wollte ich schon die ganze Zeit machen, seit ich hergekommen bin.«
Erleichtert atme ich aus. »Ach, da freu ich mich aber«, sage ich und strahle zurück. »Ich dachte, vielleicht hast du die ganzen Touristenattraktionen ja längst abgeklappert. So als Amerikaner …«, füge ich neckisch hinzu, etwas unsicher, wie er darauf reagiert, nachdem ich ihn mit meinem haarsträubenden Benehmen so verunsichert habe. Erst ist er ganz still, und ich fürchte schon, ich
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