Ein Weihnachtswunder zum Verlieben - Roman
und betrachte das paillettenbesetzte Gainsbourg-Teil, als sei es Carlys Leichenhemd. Es hat etwas davon. Ihr Gesicht, ihre Figur, ihre Persönlichkeit – all das scheint es zu reflektieren. Und als ich das Top übergestreift habe, hat es auf mich abgefärbt. Und jetzt, wo ich es ausgezogen habe, bin ich wieder die langweilige öde alte Evie. Ich kann förmlich spüren, wie die Aufregung aus mir herausströmt wie Wasser, das den Abfluss hinunterläuft. Schnell zerre ich meine Bluse hinter der Heizung hervor und ziehe sie über. Und dann flitze ich die erste Regalreihe entlang und knöpfe beim Laufendie Bluse zu und mache mich hastig daran, eine kleine Inventur des Warenbestands zu beginnen. Heute will ich von niemandem mehr gesehen werden. Und diesem Top will ich nicht noch mal zu nahekommen. Durch dieses vermaledeite Ding stecke ich jetzt bis zum Hals in der Tinte. Auf keinen Fall kann ich diese Scharade durchziehen, niemals.
Joel wird schrecklich enttäuscht sein, wenn er herausfindet, wer ich wirklich bin.
Siebtes Kapitel
D ie Stunden vergehen im Schneckentempo, aber das langwierige, methodische Prozedere einer umfassenden Bestandsaufnahme empfinde ich als äußerst beruhigend. Inzwischen habe ich es sogar geschafft mir einzureden, es sei halb so schlimm, dass ich Joel nicht gebeichtet habe, wer ich wirklich bin, da er sich vermutlich ohnehin nie melden wird. Die kurzzeitige »hektische Betriebsamkeit« heute Morgen hat sich leider als einsamer Ausreißer entpuppt. Seit Stunden hat der Drucker keine Bestellung mehr ausgespuckt. Und seltsamerweise ist auch keiner meiner lieben Kollegen hereingeschneit. Aber mir ist das nur recht. Ich bin heilfroh, dass ich meine Ruhe habe. Offenkundig darf man mich nicht auf die Menschheit loslassen. Vor allem nicht auf gutaussehende Amerikaner mit zum Ertrinken blauen Augen, die mir, wenn sie mich ansehen, das Gefühl geben, nackt in einem glitzernden Pool zu schwimmen, den die strahlende Mittelmeersonne erwärmt.
Energisch schüttele ich den Kopf und rufe mich zur Ordnung. Jetzt reiß dich zusammen, Evie.
Ich werde stocksteif, als die Tür aufgeht. Es ist Viertel vor drei, in einer Viertelstunde mache ich Feierabend. Ich stehe auf und wische mir die staubigen Hände an den Hosenbeinen ab. Gerade will ich nachschauen, wer da ist, da höre ich gedämpfte Stimmen.
»Ist sonst niemand hier?«, fragt eine näselnde männliche Stimme.
Vorsichtig linse ich hinter einer Regalreihe hervor und seheSharon – mit dem Rücken zu mir – und Rupert Hardy. Er hat drahtige, hellbeige Haare, die er zum Mittelscheitel gekämmt trägt, sodass es ihm an den Seiten in die blassen, wässrigen Augen hängt, und ein paar Zähne zu viel im Mund. Außerdem hat er rote Apfelbäckchen und darauf viele kleine geplatzte Äderchen, weshalb er aussieht, als hätte ihn ein Kind mit einem roten Kuli bemalt. Ich finde, er wirkt immer leicht erstaunt, als könne er es nicht fassen, dass er wirklich diesen Laden leitet. Er muss Mitte dreißig sein, wirkt aber jünger, weil er ziemlich klein ist. Und neben Sharon wirkt er noch zwergenhafter. Vorsichtig ziehe ich den Kopf ein und verkrümele mich hinter die Regale, als sie durch die Tür hereinkommen.
»Hier drinnen sind wir ungestört«, antwortet sie mit rauer Stimme. »Das Mädel, das hier arbeitet, hat sich sicher ein bisschen früher hinausgeschlichen, weil es denkt, es würde sowieso niemand merken!«
Empört schnappe ich nach Luft und halte mir dann mit der Hand den Mund zu, damit sie mich nicht hören. So eine Frechheit! Wo sie doch ganz genau weiß, dass ich das niemals tun würde. Ich drücke mich gegen die Regale und suche verzweifelt nach einem Ausweg. Es ist nicht zu übersehen, dass es sich hier um ein kleines privates Tête-à-Tête handelt, und das will ich unter keinen Umständen belauschen, aber wenn ich mich jetzt hervorwage, denken sie am Ende noch, ich hätte mich versteckt. Was ja auch irgendwie stimmt, aber das ist was anderes. Und wenn ich nicht aus meinem Versteck komme, denkt Sharon, ich hätte mich wirklich schon aus dem Staub gemacht. Ich höre es rascheln. Vielleicht schnappe ich mir einfach meinen Mantel, schlendere lässig an den beiden vorbei und sage nonchalant Auf Wiedersehen?
Doch just in diesem Moment setzt Rupert an zu reden, und meine Gelegenheit zum taktischen Rückzug löst sich in Luft auf.
»Die Zahlen sind schon wieder rückläufig, Sharon«, erklärt er ernst.
Sharon lässt den Kopf hängen. »Ich weiß. Ich
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